Messi strahlt vor Freude. Endlich ist er am Ziel seiner Träume angekommen. Im Alter von 35 Jahren, bei seiner allerletzten Chance, ist er Weltmeister geworden. Hat Argentinien zurück auf den Thron gehievt. Kurz vor 22 Uhr Ortszeit betritt er die Bühne, auf der er den Lohn für seine ganze Arbeit ernten wird. Dann nimmt er den Pokal entgegen und streckt ihn gen Himmel. Und damit in Richtung des grössten argentinischen Helden. In Richtung von Diego Armando Maradona. Dem Helden, dem Messi in seiner Heimat immer etwas nach stand – bis heute.
What an unbelievable game! #Argentina you are the #FIFAWorldCup champions. #Messi vs #Mbappe was the highlight. Messi is undisputed GOAT of his generation. Like Pele, Maradona before him ♥️ pic.twitter.com/GRqOSXcQHD
— Ravi Shastri (@RaviShastriOfc) December 18, 2022
Maradona war der Kapitän, Star und beste Torschütze der «Albiceleste», als Argentinien an der WM 1986 zum zweiten Mal Weltmeister wurde. Der damals 26-Jährige war am Turnier in Mexiko kaum aufzuhalten – nicht von einer gesamten englischen Hintermannschaft und erst recht nicht von den Regeln. Beim 2:1-Viertelfinalerfolg gegen England erzielte Maradona nicht nur das Tor des Jahrhunderts, sondern traf auch mit der Hand.
Nach dem Spiel sagte er über den Treffer zum 1:0: «Es war ein wenig der Kopf Maradonas und ein wenig die Hand Gottes.» Maradona wurde zum Held der Argentinier, aus seiner Rückennummer und dem spanischen Wort für Gott («Dios») entstand sein Spitzname «D10s». An diesem Status änderten weder sein übermässiger Kokain-Konsum, aufgrund dessen er zweimal gesperrt wurde, noch sonstige Eklats nach seiner Karriere etwas. Noch heute sind Name und Konterfei des vor zwei Jahren verstorbenen Maradonas auf vielen Trikots, T-Shirts und Fahnen der argentinischen Fans zu sehen.
20 Jahre nach Maradonas Sternstunden in Mexiko kam Lionel Messi zu seinem WM-Debüt. Beim Titelgewinn 1986 war er noch gar nicht auf der Welt. Und trotzdem wurde er schon bald nach Beginn seiner Karriere mit Maradona verglichen. Bereits bei seiner ersten Weltmeisterschaft im Jahr 2006 galt der frisch gebackene Champions-League-Sieger als Wunderkind. Wenige Tage vor seinem 19. Geburtstag kam er in Deutschland zu seinem ersten Einsatz – und hinterliess sofort einen Eindruck. Gegen Serbien-Montenegro erzielte er als Joker in 16 Minuten ein Tor und bereitete ein weiteres vor.
📆 #OTD in 2️⃣0️⃣0️⃣6️⃣
— FIFA World Cup (@FIFAWorldCup) June 16, 2022
One of the greatest to ever grace the football pitch made his #FIFAWorldCup debut... And it didn't take him long to get into the action 🇦🇷 @afa | pic.twitter.com/qWVJhjJgeD
Dennoch blieb er im weiteren Verlauf des Turniers Ergänzungsspieler, was auch für Kritik an Trainer Jose Pekerman sorgte. Die Fans wollten den kommenden Superstar sehen. Ihr Wunsch wurde erhört. Nach der WM stieg Messi unter dem neuen Trainer Alfio Basile zum Stammspieler auf und verhalf Argentinien 2007 in den Final der Copa America. Dort hagelte es mit einem 0:3 gegen Brasilien die erste von vielen Final-Niederlagen Messis im Nationaltrikot.
Und weil Argentinien nicht nur seit 1986 auf einen WM-Titel wartete, sondern auch seit 1993 nicht mehr Südamerikameister wurde, holte man Maradona als Coach ins Boot. Gemeinsam mit dem neuen Superstar sollte der grosse Held die «Albiceleste» endlich wieder zu Ruhm führen. Diegos Taktik hatte einen Namen: Lionel Messi. Er baute das gesamte Spiel um den immer noch erst 22-jährigen Offensivspieler auf und liess ihn anders als beim FC Barcelona und in früheren Länderspielen etwas zurückgezogener im offensiven Mittelfeld agieren. Damit wollte er ihn noch stärker zum Dreh- und Angelpunkt machen, denn für Maradona war klar: «Fussball wäre nicht so schön, wenn Messi nicht so oft den Ball bekommen würde.»
Doch der Plan ging nicht auf. Im Viertelfinal ging Argentinien 0:4 gegen Deutschland unter. Messi blieb im ganzen Turnier ohne Tor. Maradona musste weichen. Und während Messi mit Barça einen Titel nach dem anderen gewann, kamen in der Heimat erste Zweifel auf, ob «La Pulga» auch im Nationalteam liefern kann. Diese wurden nach einer schwachen Copa America im Jahr 2011 noch grösser. Wieder war im Viertelfinal Schluss.
Messis Beziehung mit den argentinischen Fans war an einem Tiefpunkt angelangt. Immer wieder wurde seine Liebe zu Argentinien infrage gestellt. Weil er das Land mit 13 Jahren in Richtung Spanien verliess, weil er die Nationalhymne nicht sang – und weil er im Nationalteam nicht an die Erfolge mit seinem Klub anknüpfen konnte.
Messis Vater nahm ihn in Schutz. Jorge Messi äusserte auch Unzufriedenheit über die ständigen Vergleiche mit Maradona. Doch diesen konnte sein Sohn nicht entkommen. Teilweise schien er fast an den grossen Erwartungen zu zerbrechen. Aber dann führte er Argentinien an der WM 2014 mit vier Toren und einem Assist in den Final, war so nah dran an der Erfüllung seiner Träume. Und scheiterte erneut einen Sieg vor dem Ziel. Darüber tröstete auch die Auszeichnung als bester Spieler des Turniers nicht hinweg.
Es war der Anfang der wohl schwierigsten Zeit für Messi in der argentinischen Nationalmannschaft. Es folgten zwei weitere bittere Finalniederlagen an den Südamerikameisterschaften 2015 und 2016 – letztere war eine Sonderausgabe zum 100-Jahre-Jubiläum der ersten Ausgabe der Copa. Beide Male scheiterte Argentinien im Penaltyschiessen. 2016 vergab Lionel Messi den ersten Elfmeter, in der Kabine begann er hemmungslos zu weinen, wie Assistenztrainer Elvio Paolorosso später erzählte.
Danach trat er kurzzeitig zurück: «Das Nationalteam ist vorbei für mich. Es ist nichts mehr für mich nach vier Finals.» Einige Monate später kehrte er aber zurück, weil «ich das Land und das Nationaltrikot zu sehr liebe». Ausserdem wolle er den Fans Grund zur Freude bereiten. Vorerst folgte jedoch eine weitere Enttäuschung an der WM 2018, wo Argentinien nach einer schwachen Gruppenphase bereits im Achtelfinal gegen den späteren Weltmeister Frankreich ausschied. Und auch die Copa 2019 brachte nicht den lang ersehnten Titel. Im Halbfinal scheiterte Argentinien an Brasilien.
Messi und die grossen Turniere – das passte einfach nicht so richtig. Es schien schon so, als bliebe er, einer der prägenden Fussballer seiner Zeit, ganz ohne Erfolg mit Argentiniens A-Nationalteam. Und so hielt auch die Kritik der argentinischen Fans an. In seiner Familie und auch bei Freunden wurden Stimmen laut, er solle endgültig aus der Nationalelf zurücktreten, wie er beim argentinischen Radio Club 94.7 erzählte. Selbst sein Sohn habe ihn gefragt: «Warum bringen sie dich in Argentinien um, Papa?»
Die Antwort ist eigentlich einfach: Für die Argentinierinnen und Argentinier zählten die Erfolge in Champions League oder der spanischen Liga nicht. Sie wollten sehen, wie ihre «Albiceleste» Titel holt. Und das hatte Messi im Gegensatz zu Maradona zu dem Zeitpunkt eben nicht erreicht.
Zur selben Zeit ging es bei Maradona gesundheitlich immer stärker bergab. Im November 2020 starb er an einem Herzinfarkt. Ganz Argentinien trauerte um die Fussball-Legende. Messi schrieb: «Ein sehr trauriger Tag für alle Argentinier und den Fussball. Er verlässt uns, aber er geht nicht weg. Denn Diego ist ewig.»
Danach kam der Erfolg für Messi plötzlich auch im Nationalteam. Als hätte er diesen Antrieb gebraucht. Die zusätzliche Motivation, für Maradona zu gewinnen. An der Copa America 2021 führte Messi (4 Tore/5 Assists) Argentinien zum Titel. Nach Abpfiff sackte er an Ort und Stelle zusammen, das gesamte Team stürmte zu ihm. Sie wussten, wie viel es ihrem Anführer bedeutet.
Nach dem Spiel sagte der Torschützenkönig: «Ich glaube, dass sich Gott diesen Erfolg für mich aufgehoben hat – in einem Final gegen die Brasilianer in ihrem Land.» Den Triumph widmete er den 45 Millionen Argentinierinnen und Argentiniern «und natürlich Diego, wo auch immer er ist».
Damit hatte Messi etwas geschafft, das Maradona nicht gelungen war. Als Argentinien 1991 Südamerikameister wurde, war er gesperrt, zwei Jahre später verletzt. Doch noch immer fehlte Messi ein Titel, um mit der Ikone gleichzuziehen. Der grösste, den es im Fussball zu gewinnen gibt. Dieser sollte an der Weltmeisterschaft in Katar ebenfalls mit der Unterstützung von «D10s» gewonnen werden. Nach dem Erfolg im Viertelfinal sagte der Stürmer: «Diego sieht uns vom Himmel aus zu.»
Und auch das ist dem siebenfachen Weltfussballer gelungen – und wie. Mit einem dramatischen Erfolg im Penaltyschiessen über Frankreich. Als Gonzalo Montiel den entscheidenden Elfmeter verwandelt, fällt Messi auf die Knie. Alle möglichen Emotionen übermannen ihn. Denn der 35-Jährige weiss: Jetzt hat er es geschafft. Jetzt übertrifft Lionel Messi auch in Argentinien niemand mehr. Jetzt steht er auf einer Stufe mit «Gott».
Als Christ wäre ich jetzt etwas beleidigt.
Als Atheïst finde ich es echt ein bissl übertrieben.
Grüsse an Sergio!