Wird es Lionel Messi vergönnt sein, seine einzigartige Laufbahn mit einem WM-Titel zu krönen? Das ist die ganz grosse Frage vor diesem Final. Lange sieht es danach aus. Argentinien führt mit 2:0, Frankreich bringt kaum ein Bein vors andere und den Ball nie gefährlich aufs gegnerische Tor.
Hätte der Final nicht um 16 Uhr Schweizer Zeit angefangen, sondern um 21 Uhr – vermutlich wäre manch ein Zuschauer nach einer Stunde ins Bett, in der festen Überzeugung, nichts mehr zu verpassen.
Doch dann drückt irgendwo ein Fussball-Gott auf ein Knöpfchen. «Spannung» steht darauf, vielleicht auch «Mbappé».
Denn plötzlich überschlagen sich die Ereignisse. Nicolas Otamendi hält Randal Kolo Muani zurück: Penalty für die «Équipe Tricolore». Kylian Mbappé, zuvor kaum gesehen, behält die Nerven. Zwar ahnt Goalie Emiliano Martinez die Ecke, aber der Schuss des Franzosen ist zu präzise.
Die Argentinier wissen nicht, wie ihnen geschieht. Derart hatten sie das Spiel im Griff – und nun darf Frankreich noch einmal hoffen? Aber es bleibt gar keine Zeit, um nachzudenken. Denn schon steht es 2:2! Wieder trifft Mbappé, dieses Mal mit mit einer Direktabnahme. Wahnsinn!
Frankreich ist ein klinisch toter Patient, der auf wundersame Weise auferstanden ist. Dramatischer kann das wichtigste Fussballspiel der Welt nicht mehr werden. Das Momentum gehört den Franzosen. Sollten sie es wirklich schaffen, innert Minuten aus dem Marianengraben den Gipfel des Mount Everest zu stürmen?
Die Argentinier retten sich in die Verlängerung. Immerhin. Durchatmen. Sortieren, was durcheinander geraten ist.
Die erste Halbzeit der Zusatzschicht ist fast vorbei, da rutscht Dayot Upamecano gerade noch rechtzeitig in einen Schuss von Lautaro Martinez. Seitenwechsel. Das Pendel schlägt wieder auf die andere Seite – weil Messi bei einem Abpraller goldrichtig steht und tatsächlich das 3:2 erzielt. 3:2! Der zweite Treffer von Lionel Messi in diesem Final.
Aber Kylian Mbappé kennt wohl den deutschen Komiker Otto Waalkes, der nach einem Witz stets zu sagen pflegte: Einen hab' ich noch. Nach einem Handspiel von Gonzalo Montiel gibt es wieder einen Penalty, Mbappé läuft an, und wieder trifft der Franzose. Sein drittes Tor heute, sein viertes Tor in einem WM-Final – das ist neuer Rekord.
Der Puls schnellt weiter in die Höhe, nicht nur in Paris, Lyon und Marseille, nicht nur in Buenos Aires, Cordoba oder Messis Geburtsstadt Rosario. Sondern rund um den Globus. Dieses Spiel ist fesselnd, mitreissend. «Football, bloody hell!», wie einst Sir Alex Ferguson meinte, der kauzige und kultige Erfolgstrainer von Manchester United.
Denn das ist immer noch nicht die letzte Pointe gewesen in diesem Spiel, das 80 Minuten lang so einseitig ist und mit einem Mal hoch dramatisch wird. Die Verlängerung ist schon fast vorbei, da taucht Kolo Muani noch einmal vor Martinez auf. Ganz alleine ist der 24-Jährige, es kann der grösste Moment seiner Karriere werden.
Aber er wird es nicht. «Die Spinne» nennen sie Argentiniens Stürmer Julian Alvarez, aber in dieser Szene leiht sich der Goalie diesen Spitznamen aus. Emiliano Martinez, den sie alle «Dibu» rufen, fährt blitzschnell sein linkes Bein aus und rettet sein Team in der 123. Minute.
Und nicht nur das: Wie einst der FC Watford in einem legendären Playoffspiel stürmt nun noch einmal Argentinien nach vorne und hat mit einem Konter selber die Chance auf die Entscheidung vor der Kurzentscheidung aus elf Metern.
Doch wieder drückt irgendwo einer einen Knopf und lässt Lautaro Martinez verziehen. Wenn schon Drama, dann maximal und bis zur letzten Sekunde.
Es kommt zum Penaltyschiessen und in diesem gehen die beiden grossen Figuren der beiden Mannschaften, die beiden überragenden Spieler dieses WM-Turniers, voran. Mbappé bringt Frankreich in Führung, Messi gleicht aus.
Und dann schlägt der nächste glorreiche Moment in der Karriere von Torhüter Damian Emiliano Martinez, geboren am 2. September 1992 in Mar del Plata. Er wehrt den Versuch von Kingsley Coman ab. Und weil danach der nächste französische Schütze, Aurélien Tchouaméni, den Ball auf der falschen Seite des Pfostens vorbei setzt, hat wenig später Gonzalo Montiel die Möglichkeit, Argentinien zum dritten WM-Titel zu schiessen.
Montiel ist Verteidiger beim FC Sevilla, in 22 Länderspielen hat er aus dem Spiel noch nie einen Treffer erzielt. Lloris entscheidet sich für die eine Ecke, Montiel für die andere – Argentinien ist Weltmeister.
Gäbe es den Ausdruck «Herzschlag-Final» nicht schon, man müsste ihn für dieses Endspiel im Lusail Iconic Stadium in Katar erfinden. Fussball, gopf, was bist du doch für ein wunderschönes Spiel!
Und Lionel Messi ist es vergönnt, Weltmeister zu werden. Mit 35 Jahren hat er seine Mannschaft zum Titel geführt, er hat in der Gruppenphase getroffen, im Achtelfinal, im Viertelfinal, im Halbfinal und im Final getroffen. Das ist der kitschig-schöne Abschluss einer Fussball-WM, die an einem falschen Ort stattgefunden, aber den richtigen Sieger erhalten hat.