«Ich habe natürlich meine andere Seite immer noch in mir drin.» Diese Worte sprach Granit Xhaka nach der Niederlage gegen Brasilien. Es war seine Replik auf die Feststellung, er sei in den letzten zwei Jahren reifer und vernünftiger geworden.
Und nun kam gegen Serbien diese andere Seite zum Vorschein. Einmal mehr. Aber sie war verständlich nach all den Provokationen, die er in der WM-Partie und ihrem Vorfeld über sich ergehen lassen musste. Nach all den Emotionen auf dieser Achterbahnfahrt, die die Schweiz am Ende auf den Gipfel führte.
Wie Granit Xhaka nun weit nach Mitternacht Ortszeit im Bauch des Stadion 974 so dasass, als «Mann des Spiels» mit diesem roten Pokal, voller Erleichterung und Stolz, da war er bereits wieder klar und ruhig im Kopf. Und erzählte mit heiserer Stimme, wie er das Gewesene auf dem Rasen werte. Mit dem Griff in den Schritt, mit den Streitereien und Schubsereien bei der Cornerfahne der Serben. Mit dem Jashari-Leibchen, das sich Xhaka nach seinem 110.Länderspiel übergezogen hatte. Er sagte:
Granit Xhaka's stocks are rising 📈 pic.twitter.com/DrcP2cPunR
— GOAL (@goal) December 2, 2022
Vor diesen Worten hatten sich die Spieler beider Länder die Hand gegeben. Und Xhaka mit wedelnder Schweizerfahne vor den Fans über das Erreichte gejubelt. Man könnte ihn nun natürlich wieder verurteilen, sich an ihm abarbeiten, wie man das halt gerne tut. Aber dieses Mal war es eben anders.
So muss man die serbischen Provokationen registrieren, die auf Xherdan Shaqiri und Xhaka wegen ihrer Herkunft einprasselten. Es gab Schmähgesänge der Fans während des Spiels, unzählige Angriffe unterhalb der Gürtellinie im Vorfeld auf den persönlichen Kanälen der sozialen Medien. Trainer Dragan Stojkovic beleidigte die Beiden aufs Übelste, später tat dies Xhaka Richtung serbische Bank ebenfalls. Dusan Vlahovic griff sich in den Schritt, später tat dies Xhaka ebenfalls. Die ganze Angelegenheit auf dem Rasen war also weit aufgeladener, als man glaubte. Auch der Schiedsrichter wurde extrem beschimpft vom serbischen Lager.
Schliesslich sagte Xhaka auf die Frage, ob die Aktion mit dem Jashari-Dress einen politischen Hintergrund habe:
Doch man kann es nicht gänzlich ausschliessen, dass Xhaka mit dem Jashari-Leibchen tatsächlich auf subtile Art und Weise Adem Jashari huldigen wollte, einem kosovarischen Freiheitskämpfer, der der nationalen Befreiungsarmee UCK angehörte und sich gegen Serbien auflehnte.
Dennoch liegt diese Sichtweise nahe: Xhaka hat den jungen Spieler Ardon Jashari sehr ins Herz geschlossen. Und weil Jashari den Arsenal-Profi an sich selbst in jungen Jahren erinnert, kümmert er sich nun wie ein Vater um ihn. Also wollte Xhaka den 20-Jährigen beim Feiern mit ins Boot holen. Schliesslich hat Jashari als einziger Feldspieler noch nicht gespielt während dieser WM.
Natürlich dürfte nun wieder die Diskussion aufkommen, ob Xhaka der richtige Captain der Schweizer Nationalmannschaft ist. Schadet das Verhalten von Xhaka der Mannschaft? Zumindest bis anhin deutet nichts darauf hin. Bis zur Stunde ist kein Verfahren der Fifa gegen Xhaka eingeleitet. Sein Griff ins Gemächt in der Hitze des Gefechts dauerte einige Hundertstelsekunden. Das ist wenig im Vergleich zum Doppeladler 2018, der keine Sperre nach sich zog. Ein Leibchen eines Teamkollegen zu tragen, ist ohnehin nicht justiziabel.
Der entscheidende Unterschied in der öffentlichen Wahrnehmung zwischen den Szenen von Doha 2022 im Vergleich mit 2018 in Kaliningrad ist dieser: Der Doppeladler vermittelte den Eindruck, dass Xhaka beim Jubeln lieber an den Kosovo als an die Schweiz denkt. Das ist nun entschieden anders. Darum sollte man den 30-Jährigen nun auch nicht ächten. Zumal er sich im Anschluss an das Spiel klar und glaubhaft äusserte.