Die Missstände im Schweizerischen Turnverband (STV) ziehen weite Kreise. Sportministerin Viola Amherd verlangt eine nationale Meldestelle bei Missbrauchsfällen und forderte in einem Interview mit den Tamedia-Zeitungen, dass die Ethik bei der Vergabe von Fördermitteln mehr Gewicht erhalten soll. Der Bund rennt mit seinen Forderungen beim für die Umsetzung zuständigen Sport-Dachverband Swiss Olympic offene Türen ein, wie dessen Direktor Roger Schnegg im Interview mit Keystone-SDA sagt.
Roger Schnegg, nach den Vorfällen beim STV fordert die Politik nun vehement Konsequenzen. Hat Swiss Olympic zu lange weggesehen und die Thematik der Ethik in den letzten Jahren unterschätzt?
Roger Schnegg: Nein, im Gegenteil. Die Forderungen bestätigen uns in dem Prozess, in dem wir uns bereits befinden. Es ist gut, wenn die Thematik öffentlich wird. Swiss Olympic ist seit Jahren sehr aktiv im Bereich der Prävention und investiert jedes Jahr Millionen. Es geht uns um mehr als nur Medaillen. Zusammen mit dem Bundesamt für Sport haben wir eine Ethikcharta für den Sport definiert, die mit dem aktuellen Wortlaut seit 2015 gilt. Diese Charta mussten alle Mitgliedsverbände in ihre Statuten aufnehmen. Dasselbe gilt seit 2016 für definierte Verhaltensregeln, einen sogenannten Code of Conduct, und eben eine unabhängige Meldestelle bei jedem Verband.
2013 hat der Exekutivrat von Swiss Olympic die Schaffung einer nationalen Meldestelle noch abgelehnt und dies den einzelnen Verbänden überlassen. Weshalb?
Wir waren schon damals sehr sensibel auf diese Thematik, haben uns aber entschieden, dass man jeden Verband dazu verpflichtet, selbst eine solche Meldestelle einzurichten. Im Nachhinein hätte man sich wohl besser für den nationalen Weg entschieden. Aber damals gewichtete der Exekutivrat die Autonomie der einzelnen Verbände grundsätzlich höher, nicht nur im Bereich der Ethik, sondern ganz generell in Fragen des Leistungssports.
Anfang Jahr nahm Swiss Olympic das Thema wieder auf die Agenda und prüft seither zusammen mit dem Bundesamt für Sport die Lancierung einer solchen nationalen Stelle, also genau das, was der Bund nun fordert. Weshalb die Kehrtwende?
Unser Austausch mit den Verbänden und der Ethik-Check, den jeder Verband durchführen muss, geben uns einen sehr guten Überblick, in welchen Verbänden und Bereichen es gut läuft und in welchen nicht. Daraus zogen wir den Schluss, dass eine nationale Meldestelle zielführender ist. Die Chance ist grösser, dass wir ein gut funktionierendes Frühwarnsystem erhalten.
Was sind denn die Vorteile einer nationalen Stelle?
Wenn es einen Vorfall gibt, muss eine Meldestelle nicht nur unabhängig, sondern auch höchst professionell arbeiten. In der kleinen Schweiz und gerade in kleinen Sportarten ist es für die einzelnen Verbände teilweise wahnsinnig schwierig, die richtigen und unabhängigen Leute zu finden, auch wenn der gute Wille da ist.
Wie ist der Stand beim Projekt?
Wir liessen in den letzten Monaten verschiedene Gutachten erstellen. Der Exekutivrat von Swiss Olympic wird nun in seiner nächsten Sitzung noch diesen Monat darüber entscheiden, ob wir eine solche nationale Meldestelle einrichten. Dieser Termin ist schon lange angesetzt – bevor die Vorfälle im STV bekannt wurden. Die Stelle soll so rasch wie möglich eingeführt werden, realistisch gesehen wird das vor 2022 aber nicht möglich sein.
Der Bund will in Ethik-Fragen mehr Mitsprache haben, wenn es um die Verteilung von Geldern geht. Ist das praktikabel?
Der Geldgeber legt grundsätzlich die Rahmenbedingungen fest. In Wertefragen ist das auch extrem legitim. Niemand in der Schweiz hat Freude an einer Medaille, wenn diese nicht unter korrekten Rahmenbedingungen gewonnen wurde. Die Vorfälle im STV sind schädlich, keine Frage. Dennoch muss man nun aufpassen, nicht den ganzen Leistungssport zu verteufeln. Die allermeisten Trainer machen einen ausgezeichneten Job, und die allermeisten Athletinnen und Athleten machen im Leistungssport positive Erfahrungen. (abu/sda)