Bayern-Jäger Nummer 1. Dabei hatte Leverkusen eine komplizierte letzte Saison und ist mit einem Trainer an den Start gegangen, für den die Bundesliga Neuland bedeutet. Aber Gerardo Seoane, 42, hat Fussball-Deutschland von Beginn weg verzückt. Nur, wie macht er das?
Es ist auffällig, wie empathisch Ihr Umgang mit Ihren Spielern ist. Beispielsweise, wie Sie am letzten Wochenende Karim Bellarabi nach seiner Auswechslung im Spiel gegen Mainz umarmt haben. Wie wichtig ist Ihnen die Nähe zu den Spielern?
Gerardo Seoane: Ein ganz wichtiger Faktor im Job eines Trainers ist es, eine Beziehung mit jedem einzelnen, aber auch mit der Mannschaft aufzubauen. Entscheidend ist für mich die Fragestellung: Was kann ich und wie muss ich es machen, damit zwischen Mannschaft und Staff eine Symbiose entsteht? Karim Bellarabi hatte ich kurz vor unserem Siegestor gegen Mainz ausgewechselt. Man könnte sagen: Er stand gerade da, als das Tor fiel, also haben wir zusammen gejubelt. Es war spontan und von meiner Seite auch ein Zeichen des Dankes, denn Karim hatte zuvor im Spiel alles für den Erfolg gegeben, der sich dann genau in diesem Moment durch das Tor eingestellt hatte. Ich nehme die Spieler ernst und versuche, eine Beziehung zu ihnen aufzubauen. Und je besser die Beziehung, desto grösser das Vertrauensverhältnis.
Ist Ihre Art etwas Neues für die Spieler von Leverkusen?
Das kann ich nicht beurteilen. Ich frage bewusst nicht nach, was in der Vergangenheit wie gelaufen ist. Was für mich wichtig ist in unserer täglichen Arbeit ist das aktuellen Feedback der Spieler. Die Frage, ob sie sich wohlfühlen. Wohlfühlen bedeutet aber nicht, dass jeder machen kann, was ihm passt. Sondern, dass wir eine gute Kommunikationsbasis haben. Ich fordere viel, versuche aber den Spielern Vertrauen und Rückendeckung zu geben.
Gibt es Dinge, die unter Ihnen in Leverkusen anders funktionieren als früher?
Eine Ist-Analyse ist für jeden Trainer, der bei einem neuen Klub beginnt, unumgänglich. Auch ich habe das in Leverkusen gemacht. Nicht allein, sondern zusammen mit der sportlichen Führung, mit Simon Rolfes, Rudi Völler und Fernando Carro. Ich versuche dabei analytisch vorzugehen, um herauszufinden, wo man der Mannschaft neue Impulse vermitteln kann und muss. Da gibt es mehrere Punkte: Taktisch, fussballerisch, physisch aber auch, was die Mentalität betrifft. Ich habe den Spielern von Beginn an vermittelt, dass wir nur gemeinsam erfolgreich sein können. Vor allem in der aktuellen Situation.
Warum?
Die letzten eineinhalb Jahre waren eine grosse Herausforderung. Die Spieler waren wegen der Pandemie zu Hause quasi isoliert. Selbst im Trainingsbetrieb wurde auf getrennte Kabinen geachtet, um möglichst kleine Gruppen zu bilden. Der Zusammenhalt hat dadurch logischerweise gelitten. Deshalb haben wir in diesem Bereich viel investiert. Dazu ist es auch wichtig, sich auf gemeinsame Werte zu verständigen. Wie wollen wir miteinander umgehen, welche Mentalität soll täglich auf dem Trainingsplatz herrschen? Das sind vermeintliche Soft-Faktoren, die für mich aber sehr wichtig sind.
Was sind das für Werte, die Sie Ihrer Mannschaft vermitteln?
Fussball lebt auch von individuellen Exploits. Aber für mich ist es zentral, dass wir über einen Teamsport sprechen. Alles, was man macht, soll zum Wohl der Mannschaft geschehen. Dazu gehört Opferbereitschaft und Solidarität. Jeder muss bereit sein, Dinge zu tun, die das Individuum vielleicht nicht im Glanz erstrahlen lassen, für das Team aber von grossem Wert sind. Ich erwarte Demut und die permanente Bereitschaft jedes einzelnen zur Weiterentwicklung. Man darf Fehler machen, aber ich erwarte, dass man aus Fehlern lernt. Ich will, dass wir uns gegenseitig unterstützen. Und ich will, dass jeder Verantwortung übernimmt, den Fehler nicht beim Mitspieler sucht. Denn klar ist: Wenn die Mannschaft funktioniert, profitiert jeder einzelne.
Was haben Sie unternommen, um den Teamspirit zu stärken?
Es gibt klassische Massnahmen wie Teamevents. Aber wir haben auch die Mannschaft dazu animiert, selbstständig etwas auf die Beine stellen. Das darf auch mal ohne das Trainerteam sein. Oder, ganz wichtig, die Integration der neuen Spieler. Einfach mal ein Mittagessen mit den Familienmitgliedern, damit alle einander kennenlernen können. Und in den Trainings täglich Wettkampfsituation zu kreieren, stärkt den Kitt ebenfalls. Denn die Spieler sollen immer wieder erkennen, dass sie nur in der Gruppe erfolgreich sein können.
Nach dem 1:0-Sieg gegen Mainz wurde Kerem Demirbay gefragt, ob nun Torhüter Lukas Hradecky oder Siegtorschütze Florian Wirtz der Star des Tages sei. Demirbay antwortete: Die Mannschaft sei der Star. Er scheint schon voll auf Linie zu sein.
Das Ziel unserer Massnahmen ist natürlich, dass sie Wirkung erzielen. Das geht weit über den Fussballrasen hinaus. Mir gefällt es, wenn die Spieler alles aufnehmen und wir offenbar genug Überzeugungskraft haben, um sie auf unsere Reise mitzunehmen. Ja, ich gebe es zu: Es ist erfreulich, wenn ein Spieler mit dieser Überzeugung unsere Werte nach Aussen vertritt. Denn das bedeutet für mich, wir sind auf einem guten Weg.
Wie gehen Individualisten, von denen Sie auch welche im Team haben, mit der Prämisse «alles für die Mannschaft» um? Braucht es bei denen mehr Überzeugungsarbeit?
Eine funktionierende Equipe akzeptiert Individualisten, wenn man sieht, dass sie sich in den Dienst der Mannschaft stellen. Es ist klar: Wir verlangen von Moussa Diaby nicht das gleiche wie von einem defensiven Mittelfeldspieler. Wenn die defensiven Mittelfeldspieler sehen, dass der Stürmer nach Ballverlust umschaltet, ins Gegenpressing geht, sind die defensiven Mittelfeldspieler bereit, noch mehr Arbeit nach hinten zu verrichten. Eigentlich ist es einfach: Jeder kennt seine Rolle und die Rolle des Mitspielers. Wenn jeder sieht, dass der andere in seinem Bereich sein Bestes gibt, steigt die Leistungsbereitschaft.
Eigentlich mussten Sie Ihre Arbeit gar nicht gross umstellen. Schon bei den Young Boys sprachen Sie unentwegt von «im Dienst der Mannschaft».
Ich verstehe Fussball halt als Mannschaftssport. Selbst die besten Einzelspieler haben es schwer gegen eine funktionierende Einheit. Wer wurde Europameister? Wie hat Italien funktioniert? Es gibt viele Beispiele, die beweisen, dass nach oben alles möglich ist, wenn die Mannschaft funktioniert. Ich glaube aber, dass das alle Trainer so sehen.
Wieso gelingt es Ihnen besser als anderen Trainern, eine Mannschaft zu formen? Sie sind bald vier Jahre Profi-Trainer und hatten nie eine Krise.
In den sieben, acht Jahren im Nachwuchs habe ich mich intensiv damit auseinandergesetzt, wie ich mal als Profi-Trainer funktionieren will. Ich kam unter anderem zum Schluss: Ich will ein mutiger Trainer sein. Mutig nicht allein im fussballerischen Bereich, sondern auch in der Personalführung. Wenn man eine Gruppe von seinen Ideen überzeugen will, muss man sich exponieren. Es braucht Mut, Dinge anzusprechen. Und es braucht Beharrlichkeit. Man muss immer dranbleiben, nie nachlassen, auch wenn das Resultat nicht sofort sichtbar ist. Und, ganz wichtig für mich: Ein Trainer muss die Antennen immer auf Empfang haben. Er muss immer spüren, was seine Mannschaft in welchem Moment braucht, welche Reize er setzen muss, damit die Spannung hochgehalten werden kann.
Mutig und beharrlich bedeutet, dem Konflikt nicht aus dem Weg zu gehen. Aber ab und zu ist es auch für eine Führungskraft bequemer, die Fünf mal gerade sein lassen.
Ich arbeite seit sechs Jahren mit einem Coach zusammen. Um Probleme und Schwierigkeiten muss man sich ja nicht kümmern, damit wird man fast täglich konfrontiert. Entscheidend ist, wie man diese löst. Es ist nicht so, dass ich immer sofort interveniere. Aber mein Ziel ist es, dass ich alles, was ich als Gefahr oder Warnsignal wahrnehme, nicht verdränge. Und da kommen wir wieder zur Beziehung mit den Spielern. Je besser ich die Spieler kenne, desto kleiner die Gefahr von Missverständnissen, wenn man über Probleme spricht.
Wie funktioniert die Zusammenarbeit mit Ihrem Coach?
Ich wollte meine Führungsqualitäten verbessern und mich dabei mit realen Situationen auseinandersetzen. Also rede ich mit meinem Coach über Dinge, die in meiner Mannschaft tatsächlich passieren, aber natürlich ohne dabei die Privatsphäre des Spielers auch nur zu touchieren. Da bin ich absolut strikt. Ich konfrontiere meinen Coach mit der Feststellung: Es fehlt etwas Leben und Kommunikation in der Mannschaft. Und dann reden wir darüber. Er gibt mir nie die Lösung. Aber er hilft mir im Prozess. Für mich als Trainer ist es sehr wichtig, mit einer aussenstehenden Person im ständigen Austausch zu sein. Der Austausch kann zweimal wöchentlich stattfinden und dann zwei Wochen lang gar nicht. Ich melde mich einfach bei ihm, wenn ich jemanden zum Reden brauche.
Stauchen Sie einen Spieler auch mal vor der ganzen Mannschaft zusammen?
Eigentlich nicht. Auch, weil ich das selbst als Spieler nicht geschätzt habe. Anweisungen und Korrekturen schon. Aber wenn sich ein Spieler überhaupt nicht an unsere Abmachung hält, versuche ich das unter vier Augen zu besprechen. Schliesslich kann es sein, dass der Spieler mich falsch verstanden hat, eine andere Idee hatte - also das Fehlverhalten in einem Missverständnis gründete.
Um Florian Wirtz wird in ganz Deutschland derzeit ein Riesen-Hype veranstaltet. Haben Sie je einen talentierteren Spieler trainiert?
Nein. Er ist ein absolutes Ausnahmetalent. Klar hatte ich immer mal wieder Spieler, bei denen ich dachte: Wow! Aber Florian bestätigt derzeit seine Fähigkeiten auf höchster Ebene und das in einer enormen Frequenz. Nicht vergessen: Er ist erst 18 und in der Bundesliga derzeit der effizienteste Spieler. Eigentlich unfassbar.
Wirtz hat schon jetzt einen Marktwert von 45 Millionen Euro. Je nach dem, wie er unter Ihnen performt, kann sich dieser Wert stark verändern. Spüren Sie Druck im Umgang mit diesem Juwel?
Ein Trainer muss ein Gespür haben, wie man mit solchen Diamanten umgeht. Es ist wichtig, dass alle, die in dieses Projekt involviert sind, gute Entscheidungen treffen. Man muss abschätzen, wann man den Spieler begleitet, beschützt, oder ihn auch mal machen lässt. Natürlich gehört zum Lernprozess auch dazu, dass man Fehler zulässt. Florian soll und kann auch nicht in einem hermetisch abgeriegelten Raum reifen.
Auch die Erwartungen an Sie sind hoch. Es hiess, Seoane soll Geschäftsführer Rudi Völler zum Abschluss der Karriere einen Titel schenken.
So habe ich das nicht wahrgenommen. Jedenfalls nicht so, dass die Last nur auf meinen Schultern liegt. Auch ein Titel würde nie für das entlöhnen, was Rudi für diesen Verein geleistet hat. Ich bin ambitioniert und ich habe gespürt, dass der Verein auch ambitioniert ist. Wir wollen unbedingt etwas entwickeln, womit man mal einen Titel gewinnen kann. Es wäre toll, wenn es uns gelingen sollte, Rudi ein Abschiedsgeschenk zu machen.
Lothar Matthäus hat Sie über den Klee gelobt, wie schnell Sie die Bundesliga verstanden und dem Team eine Handschrift gegeben haben. Macht Sie das Lob eines grossen Ex-Fussballers stolz?
Klar freue ich mich, wenn ich Lob bekomme. Das gehört bei uns im Job dazu, wenn die Resultate und die Arbeit gut sind. Wir Trainer wissen aber auch, wie schnell der Wind drehen kann. Das Kompliment von Lothar motiviert mich zum Weitermachen, die nächsten Schritte mit dieser Mannschaft zu gehen.
Andere Schweizer in der Bundesliga gibt es relativ viele auch in der Nähe von Leverkusen. Haben Sie sich mit einigen schon getroffen?
Nein, ich habe hier auch keine Freundschaften im eigentlichen Sinn geschlossen, das sind Bekanntschaften. Mehr lässt dieser Job letztlich auch gar nicht zu, da fehlt einfach die Zeit. Aber praktisch in jedem Spiel gibt es einen Bezug zur Schweiz. Urs Fischer bei Union Berlin, viele Schweizer gibt es bei Gladbach, Silvan Widmer spielt bei Mainz und Martin Schmidt ist dort Sportdirektor, Ruben Vargas spielt bei Augsburg. Man merkt, die Schweizer Liga hat zahlreiche Leute in die Bundesliga gebracht.
Regelmässig können Sie Schweizerdeutsch sprechen. Mit Assistenzcoach Patrick Schnarwiler geht das sogar die ganze Zeit.
Es wird nicht so gern gesehen, wenn wir im Trainerstaff so parlieren. Die armen Kollegen verstehen es einfach nicht. Und wir machen es auch nicht, weil wir sonst auf die Schippe genommen werden. (lächelt)
Viele Leverkusen-Profis wohnen in Köln, Sie auch?
Zahlreiche unserer Spieler wohnen im Umkreis von Leverkusen, in Düsseldorf oder Köln. Bei mir ist es auch so, dass ich zwischen den Städten Leverkusen und Köln, die nahezu ineinander übergehen, im Grünen wohne. Von dort habe ich 15 Minuten Fahrzeit zum Stadion.
Nach der Länderspielpause folgt ein grosser Match. Freuen Sie sich bereits auf den Spitzenkampf am 17. Oktober zu Hause gegen den FC Bayern München?
Ihr Schweizer Journalisten kennt mich, zuerst kommen die anderen Spiele. Am nächsten Sonntag haben wir ein Auswärtsspiel in Bielefeld, die Arminia performt unglaublich mit dem neuen Trainer (Frank Kramer; Anm. der Red.). Das wird ein schwieriger Match. Dann folgt die Nationalmannschaftspause, wir haben 15, 16 Internationale, die dann unterwegs sind. Während dieser Zeit bist du als Trainer vorsichtig und hoffst, dass alle gesund zurückkommen, im Wissen, dass nachher die Partie gegen Bayern ist. Jeder Match ist für mich etwas Neues und Spannendes, aber es ist auch klar, dass ein Spiel gegen Bayern München immer noch etwas Anderes ist in der Bundesliga. Zu den besonderen Spielen zähle ich auch Dortmund, die Vergleiche gegen Bayern und Dortmund sind noch einmal von einer anderen Kategorie, weil das einfach die beiden Topmannschaften der vergangenen zehn Jahre sind. Gelingt uns gegen Bielefeld eine gute Leistung, dann wird der Match gegen Bayern sicher brisant.
Noch einmal zurück zu Ihrem Start in Deutschland: Im Trainingslager gab es viel Regen, in Leverkusen Hochwasser und einen schlimmen Unfall in den Chemiewerken. Wie sind Sie damit umgegangen?
Die Vorbereitung war holprig in dem Sinn, weil wir nichts beeinflussen konnten, was passiert ist. Wir hatten in Leverkusen Hochwasser, das war eine Katastrophe, in den Strassen stand das Wasser einen Meter hoch, es gab Todesfälle und dann kam noch die Explosion im Chemiewerk, wieder mit Toten. Das ist uns hier bei Bayer Leverkusen hautnah gegangen. Alle waren irgendwo betroffen, wir fuhren mit den Autos auf dem Wasser und wir wussten, dass hier Menschen Hab und Gut verloren haben - und einige sogar ihr Leben. Das hat eine grosse Solidarität ausgelöst. Bayer Leverkusen ist nicht nur ein Fussballklub, das ist eine Institution. Da ist ein grosser Konzern dahinter. Es war eindrücklich zu sehen, wie man mit finanzieller Hilfe den Wiederaufbau in Angriff genommen hat und wie ernst hier die soziale Verantwortung genommen wird. In der schwierigen Vorbereitung versuchten wir die Situationen so mit der Mannschaft aufzuarbeiten, dass wir die positive Energie daraus nahmen und immer wieder flexibel reagierten.
Wie ist das mit Corona, gibt es bei Bayer Leverkusen eine Impfpflicht für alle Angestellten?
Es gibt eine klare Empfehlung zum Impfen. Alle Spieler und Mitarbeiter im näheren Umfeld der Mannschaft sind geimpft. Auch beim Bayer-Werk habe ich mitbekommen, dass man in dieser Hinsicht ein klare Haltung einnimmt und sie auch kommuniziert. Da gibt es eine Entwicklung - von man kann impfen, über es wird empfohlen und irgendwann heisst es, die Impfung wird von der Belegschaft erwartet. Mit der Kommunikation versucht man die Leute hier in Deutschland zu bewegen. Auch wir im Fussball, wenn wir unseren Job weiter machen und nicht immer betroffen sein wollen, müssen dafür sorgen, die Corona-Zeit hinter uns zu lassen. Da können wir auch Vorbild sein und vorangehen. (aargauerzeitung.ch)