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Leichtathletik-WM: Legende Coe lobt die Schweiz für ihre Entwicklung

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Sebastian Coe wurde als Mittelstreckenläufer zweimal Olympiasieger, heute ist er Präsident des Leichtathletik-Weltverbands.Bild: keystone
Interview

Leichtathletik-Boss Coe: «Die Schweiz bewegt sich auf einem Allzeithoch»

Der Präsident von World Athletics verrät vor der WM sein eigenes Sportprogramm und blickt mit grosser Bewunderung auf die Fortschritte der Schweiz.
14.09.2025, 10:2514.09.2025, 10:25
Rainer Sommerhalder / ch media

Am gestrigen Samstag begannen in Tokio die Weltmeisterschaften der Leichtathletik. Sie sollen gemäss Weltverband als Neuerung zukünftig den Abschluss der Saison bilden. World Athletics wird seit zehn Jahren von Sebastian Coe, einer schillernden Figur im internationalen Sport, geführt. CH Media traf Coe im Vorfeld der WM zum Interview.

Nach verschiedenen Anläufen und mehrmaligen kurzfristigen Verschiebungen fand das Gespräch letztlich im Auto am Tag nach «Weltklasse Zürich» auf dem Weg vom Hotel zum Flughafen Kloten statt. Für einmal also war der Zürcher Stau kein störender Faktor.

Sebastian Coe, wie sieht Ihr persönliches Sportprogramm aus?
Sebastian Coe: Ich trainiere noch immer täglich und lege in der Regel pro Woche nur an einem Tag eine Pause ein. Ich gestalte das Training möglichst abwechslungsreich. An drei oder vier Tagen pro Woche renne ich. An den anderen Tagen absolviere ich ein Krafttraining. Zusätzlich spiele ich regelmässig Tennis. Ich liebe dieses Spiel. Ich bin zwar kein Roger Federer, aber ich komme auf dem Platz zurecht.

Athletics - 1984 Los Angeles Olympics - Men s 1500 metres Final Great Britain s Sebastian Coe with the Union Jack flag on his lap of honour after winning gold in the Los Angeles Memorial Coliseum. Coe ...
1984 rannte Sebastian Coe in Los Angeles zu Olympia-Gold über 1500 m.Bild: imago sportfotodienst

Sie reservieren in Ihrer Agenda also bewusst Zeit für das tägliche Training?
Mein Büro weiss, dass wir, wenn viele Sachen anstehen und der Tag wieder einmal zu wenig Stunden hat, zwar einiges streichen können, aber niemals mein Training.

Was geht mit knapp 69 Jahren nicht mehr so einfach wie früher?
Vieles – wenn es anders wäre, würde ich mir Sorgen machen. Der Tag, an dem ich aufwache und keine Schmerzen habe, ist wahrscheinlich der Tag, an dem ich gestorben bin. Ich finde das Training aber ebenso wichtig für den Geist wie für den Körper. Ich trainiere früh am Morgen vor dem Start des Arbeitsalltags. Meine Tage enden manchmal erst am späteren Abend, um diese Zeit hat man keine Lust mehr auf ein Training. Ich bin also an den meisten Tagen der Woche um 7 Uhr im Fitnessstudio.

Und wie steht es mit dem sportlichen Ehrgeiz eines ehemaligen Olympiasiegers?
Nein, nein, ich mache mir selten Gedanken darüber, wie schnell oder wie weit ich gerannt bin. Wenn ich renne, dann jeweils eine Stunde. Manchmal ist es ein Dauerlauf, manchmal baue ich Intervall-Sequenzen ein. Meine aerobe Kapazität war immer und ist immer noch gut. Aber ich denke, dass die Erhaltung der Kraft, der Muskelmasse und der Körperhaltung in meinem Alter immer wichtiger werden.

Gibt es noch Dinge, die Sie als Sportler realisieren möchten?
Nein. Ich mag Tennis und ich spiele es – so denke ich – ziemlich konkurrenzfähig. Aber Ziele setze ich mir nicht. Ich trainiere einfach gerne, finde es auch mental erfrischend. Oft führe ich geschäftliche Besprechungen sogar, während ich auf dem Laufband renne.

«Swiss Athletics gehört weltweit zu den fünf Verbänden mit der grössten Entwicklung im letzten Jahrzehnt.»

Sprechen wir über die Leichtathletik in der Schweiz: Sie haben exzellente Kontakte in die Schweiz. Wie beurteilen Sie die Entwicklung der Leichtathletik in den vergangenen zehn Jahren?
Nun, ich glaube, dass Swiss Athletics weltweit zu den fünf Verbänden mit der grössten Entwicklung im letzten Jahrzehnt gehört. Die Leichtathletik war in der Schweiz zwar stets eine starke Sportart und es gab schon immer einzelne herausragende Sportler. Aber die aktuelle Tiefe der Leistungsqualität verbunden mit der organisatorischen Toparbeit des Verbandes und der Schweizer Trainer bewegt sich meiner Meinung nach auf einem Allzeithoch. Speziell erwähnen möchte ich die Rolle von Verbandspräsident Christoph Seiler. Ich würde mir wünschen, dass alle unsere Landesverbände einen Christoph Seiler an der Spitze hätten.

Das wird Christoph Seiler gerne lesen!
Die Schweiz hatte Figuren wie Werner Günthör oder André Bucher. Aber jetzt hat man beeindruckende Sprinterinnen und Sprinter. Und wir erlebten in der Diamond League Schweizer Siege im Weitsprung und bei den Frauen über 800 m – notabene mit einem Schweizer Rekord. Wir sahen Speerwurf auf höchstem Niveau. Die Schweiz hat heute eine beeindruckende Breite an Talenten. Es ist eine Freude, diese Entwicklung mitzuerleben.

Christoph Seiler, Praesident Swiss Athletics, spricht waehrend der Swiss Athletics Night, am Samstag, 19. November 2022 in Bern. (KEYSTONE/Anthony Anex)
Christoph Seiler erhält von Sebastian Coe ein Sonderlob.Bild: keystone

Was imponiert Ihnen am meisten?
Ich denke, dass die Professionalität des Verbandes und die Qualität der Trainerteams ausschlaggebend sind. Und Christoph Seiler, wissen Sie, ist ein talentierter Mensch. Er bringt Fähigkeiten mit, die weit über die Leichtathletik-Bahn hinausgehen.

Die Weltmeisterschaften finden in Zukunft konsequent Mitte September statt. Welche Vorteile hat dieser späte Termin?
Nur, um das klarzustellen: Es ist nicht unser Plan, die WM immer Mitte September durchzuführen. Ja, wir haben den Kalender umgestaltet und sind der Meinung, dass die Saison mit der Weltmeisterschaft enden sollte. Für viele Menschen, insbesondere unsere Leichtathletik-Zuschauer, ist das verständlicher als die bisherige Lösung, den Saisonhöhepunkt mitten in der Saison zu veranstalten. Es herrschte einige Verwirrung. Die Leute sagten oft zu mir: «Na gut, ich habe gerade die WM gesehen. Aber was ist das Finale der Diamond League, das jetzt noch kommt?»

Aber sind die Athleten nicht müde am Ende der Saison?
Ich habe in Zürich mit Karsten Warholm gesprochen. Er sagte, dass ihm diese Variante sehr entgegenkommt. Zuerst das Finale der Diamond League und danach der Fokus auf das Trainingslager und die Vorbereitung auf Tokio richten.

epa12331335 Karsten Warholm of Norway celebrates with the Diamond trophy and a Norwegian flag after winning the 400m hurdles Men at the World Athletics Diamond League final 2025 athletics meeting in Z ...
Karsten Warholm ist Weltrekordhalter über 400 m Hürden.Bild: keystone

Es muss aber nicht unbedingt September sein?
Das Zeitfenster für die WM ist grundsätzlich immer noch in der letzten Woche im Juli und in der ersten Woche im August. Der Grund, warum wir mit Tokio in den September gewechselt haben, liegt an den extremen Wetterbedingungen im Hochsommer. Es geht also um den Schutz unserer Athletinnen und Athleten. Sie erinnern sich daran, dass wir die WM 2019 in Doha fast bis in den Oktober hinausgezögert haben. Aber das ist nicht der Sinn der Sache. Wir verlegen die WM nicht routinemässig in den September. Dieser Termin bringt neue Herausforderungen mit sich. Wir konkurrenzieren uns im Sportkalender beispielsweise mit den ersten Runden der Champions League.

«Was sie in den letzten Jahren mit dem Event in Zürich gemacht haben, ist aussergewöhnlich.»

Aber wie soll das aufgehen: WM nach dem Final der Diamond League, aber nicht unbedingt im September? Weltklasse Zürich findet traditionell Ende August statt!
Nun, es ist nicht an mir, zu entscheiden, an welchem Datum die Direktoren Andreas Hediger und Christoph Joho das Meeting durchführen. Was sie in den letzten Jahren mit dem Event in Zürich gemacht haben, ist aussergewöhnlich. Die Meeting-Direktoren der Diamond League werden sich in den nächsten Wochen treffen und untereinander entscheiden, wann die Meetings 2026 stattfinden werden. Die Termine hängen oft auch von örtlichen Gegebenheiten ab. Es gibt viele Überlegungen, die sie in Betracht ziehen. Aber ich weiss, dass die aktuellen Bemühungen, die Saison mit der WM abzuschliessen, auch sie zum Nachdenken über den Terminplan anregen. Eines der Themen, über die ich und unser Innovationsteam viel nachdenken, ist die Frage, wie wir die Leichtathletik-Saison insgesamt verlängern können. Ich denke, es ist wirklich wichtig, dass wir in Zukunft so viele Gelegenheiten wie möglich finden, um die Stars der Sportart präsentieren zu können und nicht alles von Ende Mai bis zu den ersten paar Tagen im September zu verdichten. Für einen Profisport ist die Saison nicht lang genug.

Sie betonten zuletzt das Potenzial der Leichtathletik in Asien. Warum ist Asien für Sie so wichtig?
Asien ist ein riesiger Markt für uns. Und zu einem grossen Teil ein Markt, der in einigen für uns wichtigen Bereichen noch unerschlossen ist. Die Leichtathletik stösst offensichtlich in China auf grosses Interesse. Auch in Japan finden viele unserer Veranstaltungen statt. Und viele unserer Sponsoren sind japanische Marken. Mein Blick geht auch in Richtung des indischen Marktes. Dort leben mehr als 1,4 Milliarden Menschen. 300 Millionen von ihnen gehören zur Mittelschicht. Die Erfolge von Sperrwerfer Neeraj Chopra haben das Interesse an der Leichtathletik bei vielen Indern geweckt. Und schliesslich habe auch ich indische Wurzeln. Mein Grossvater stammt aus Indien. Es gibt kein Patentrezept, aber ich habe keinen Zweifel daran, dass Asien ein Kontinent ist, in den die Leichtathletik Zeit, Energie und Ressourcen investieren muss.

Und wann erobern die Weltmeisterschaften Afrika?
Ich erinnere daran, dass wir unter meiner Präsidentschaft bereits mehrere WM-Formate in Afrika erlebt haben – die Titelkämpfe im Trailrunning sowie die U18-WM und die U20-WM in Kenia. Im nächsten Jahr finden die World Relays in Botswana statt.

Und die WM der Elite?
Ich weiss, dass die afrikanische Konföderation aktiv prüft, welche Stadt sie für eine Bewerbung vorschlagen kann. Es ist wichtig, dass wir als globaler Sport anerkennen, dass Afrika einen enormen Beitrag geleistet hat.  Aber wir sehen auch, dass es eine andere Herangehensweise für eine WM in Afrika braucht. World Athletics zeigt sich flexibel. Wir sind also durchaus bereit, ein überzeugendes Angebot aus Afrika zu berücksichtigen.

«Der Klimawandel ist ein existenzielles Problem und ich bin mir nicht sicher, ob die Welt das Ausmass vollständig erfasst hat.»

Von Afrika zum Klimawandel – kein schlechter Transfer! Der Klimawandel stellt auch die Leichtathletik vor grosse Herausforderungen. Es wird immer mehr Regionen geben, wo die äusseren Bedingungen gerade für die Laufdisziplinen auch im September kritisch sein können. Wie geht World Athletics mit dieser Herausforderung um?
Ich spreche jetzt nicht in der Rolle als Präsident von World Athletics: Der Klimawandel ist ein existenzielles Problem und ich bin mir nicht sicher, ob die Welt das Ausmass dessen, womit wir konfrontiert sind, vollständig erfasst hat. Die mathematischen und wissenschaftlichen Grundlagen dafür sind unbestreitbar. Unsere Ozeane erwärmen sich von Monat zu Monat. Unsere Umgebungstemperaturen steigen von Monat zu Monat. Die Herausforderung wird immer grösser. Und was mich mehr als alles andere beunruhigt, ist die Tatsache, dass in den letzten zwei oder drei Jahren die grösseren Unternehmen begonnen haben, ihre Verpflichtungen uns gegenüber auf stark zu reduzieren. Auch die Regierungen sind dabei, ihre Klimaziele aufzuweichen. So sieht die aktuelle Landkarte aus!

Tönt nach Ohnmacht. Was kann ein Sportverband da tun?
Wir haben unsere eigenen Mitglieder befragt: Beinahe 80 Prozent anerkennen, dass der Klimawandel dramatische Auswirkungen sowohl auf ihre Wettkampfsaison als auch auf ihre Trainingsprogramme hat. Und sie wollen, dass wir handeln. Ich bin sehr froh, dass ich dies als Präsident von World Athletics tun kann. Sie wissen ja, ich war auch ein Athlet – aber in einfacheren Zeiten. Sie haben darauf hingewiesen, dass es einige Teile der Welt gibt, in denen unsere Ausdauerveranstaltungen nicht zu jeder Zeit durchführbar sind. Diese Feststellung gilt auch für Europa. Wenn die Olympischen Spiele in Paris zum gleichen Datum ein Jahr früher stattgefunden hätten, hätten wir Temperaturen von 44 Grad gehabt. Unsere Gesundheits- und Wissenschaftsteams, die zu den besten im Sport gehören, werden auch jetzt die Bedingungen in Tokio sehr genau beobachten. Unser oberstes Ziel muss stets das Wohlergehen der Athleten sein.

epa12368936 An exterior view of the Japan National Stadium ahead of the World Athletics Championships Tokyo 25 in Tokyo, Japan, 11 September 2025. The World Athletics Championships will take place fro ...
Hier findet die Leichtathletik-WM statt: Japans Nationalstadion in Tokio.Bild: keystone

Aber wie wollen Sie dieses konkret schützen?
Wir gehen das Thema auf praktische Art und Weise an. Wir haben beispielsweise die Möglichkeit, den Marathon zeitlich vorzuverlegen. Das haben wir ja auch bereits mehrmals getan. Aber natürlich ist das keine allgemeingültige Antwort auf Ihre Frage. Ich habe während meiner Bewerbung als IOC-Präsident gesagt, dass der globale Sport und das Internationale Olympische Komitee gemeinsam prüfen müssen, wie wir den Sportkalender strukturieren. Es wird schwierig sein, von unseren Athleten zu verlangen, dass sie unter gewissen klimatischen Bedingungen zum Beispiel an einem Lauf oder Marathon teilnehmen. Vielleicht müssen wir zukünftig Austragungsorte solcher Veranstaltungen in unterschiedlichen Klimazonen und zu einem anderen Zeitpunkt im Jahr definieren. Wir müssen darüber nachdenken. Und wir versuchen, die bestmöglichen Rahmbedingungen zu schaffen, durch Überwachung der Wetterbedingungen und die Bereitstellung der besten medizinischen Unterstützung im Stadion und auf der Strasse. Wir haben eine zehnjährige Nachhaltigkeitsstrategie, die wir sehr ernst nehmen. Da geht es beispielsweise um die Vermeidung von Kunststoffen an den Anlässen und eine Reduzierung der Reisetätigkeit während der Saison.

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