Lia Wälti erzählt, welche Qualen sie während des Sommermärchens überstehen musste
Die Schweiz feierte im vergangenen Sommer den Frauenfussball. Rot-weisse Fanmärsche, ein euphorisiertes Land – getragen von einem Nationalteam, das Historisches erreichte. Im Zentrum: Captain Lia Wälti, das Gesicht der Frauen-Nati. Die 32-Jährige steht für Ruhe, Klarheit und Qualität. Doch während sie von einem ganzen Land gefeiert wird, kämpft Wälti mit Knieproblemen und einem Abszess, der sie bis heute einschränkt. Im Interview spricht sie so offen wie nie über Druck, Zweifel – und darüber, warum sie heute weniger schnell über andere urteilt.
Welche Bilder und Erinnerungen tauchen auf, wenn Sie an die Heim-EM zurückdenken?
Lia Wälti: Der Sommer war geprägt von unglaublich vielen positiven und eindrücklichen Momenten. Vieles kam unerwartet, weil wir im Vorfeld nicht wussten, wie sich alles entwickeln würde. Was wir erleben durften, war etwas ganz Besonderes.
Sie haben eine absolute Schlüsselrolle in der Frauen-Nati eingenommen, die erstmals einen EM-Viertelfinal erreichte. Doch am Tag vor dem Eröffnungsspiel war Ihr Einsatz fraglich. Wie sehr hat Sie Ihre gesundheitliche Situation belastet?
Es hat mich sehr belastet. Wegen meines Knies wusste ich bis zum Tag vor dem Eröffnungsspiel nicht, ob ich spielen kann. Das war kein Spielchen nach aussen – es war wirklich sehr unklar. Umso glücklicher bin ich, dass es so aufgegangen ist und ich diesen Sommer erleben durfte. Aber der Druck, den ich mir selbst gemacht habe, war riesig.
Dann entstand eine Euphorie, in der das ganze Land plötzlich Frauenfussball schaute. Würden Sie es als Sommermärchen bezeichnen?
Ja, das Wort trifft es. Es ist aber schade, dass solche Momente so schnell vorbeigehen. Es waren Emotionen, die ich in diesem Ausmass noch nie erlebt habe – und wohl auch nie mehr erleben werde. Als wir mit dem Bus zu den Stadien fuhren, wartete eine rote Welle jubelnder Fans auf uns. Die Momente vor dem Spiel waren unglaublich: Die eigene Familie auf der Tribüne zu sehen, während das ganze Stadion die Hymne singt. Am bedeutendsten war, dass wir so viele Herzen gewinnen konnten.
Kurz nach der EM mussten Sie sich erneut wegen Ihres Abszesses im Gesässbereich operieren lassen. War das geplant?
Ich wusste von Anfang an, dass ich nach dem Turnier operiert werden muss. Lange war nicht klar, ob wir die Operation bis nach der EM hinauszögern können. In diesem Sinne ist alles gut aufgegangen. Bis zur Operation habe ich versucht, nicht darüber nachzudenken. Es gehört jetzt einfach zu mir und zu meiner Situation.
Sie bekamen einen Abszess, bei dem zu Beginn sogar befürchtet wurde, dass es sich um einen Tumor handeln könnte. Was ging Ihnen dabei durch den Kopf?
Verletzungen gehören zum Sport, aber dieser Abszess ist etwas anderes. Ich spreche bewusst von einer Krankheit. Viele andere Probleme erscheinen mir heute kleiner als früher. Gleichzeitig wird mich diese Situation noch über Jahre begleiten, meinen Alltag einschränken. Ich muss das akzeptieren. Beschäftigte ich mich ständig damit, würde mich das extrem runterziehen. Ich versuche, mich auf das Positive zu konzentrieren – mir könnte es deutlich schlechter gehen.
Wie schränkt der Abszess Ihren Alltag ein?
Ich habe offene Wunden und eine Drainage, aus der ständig Flüssigkeit austritt. Seit der Operation im vergangenen November muss ich regelmässig Einlagen wechseln. Das ist eine grosse Einschränkung und beeinflusst mein tägliches Leben stark.
Wie sehen die Zukunftsaussichten aus?
Sehr ungewiss. Ich kann das nicht klar beantworten, weil ich es selbst nicht genau weiss. Die Heilungschancen bei einer Operation sind gering. Es werden immer wieder Eingriffe nötig sein. Es kann sein, dass eine Operation irgendwann funktioniert – oder dass ich das ganze Leben lang mit dem Abszess leben muss. Als aktive Sportlerin kann ich mich jedoch nicht alle zwei Monate operieren lassen, sonst wäre meine Karriere vorbei. Deshalb versuche ich, meine Karriere bewusst zu geniessen und das Thema danach anzugehen, wenn es möglich ist.
Wie wirkt sich diese Situation sportlich aus?
Es ist etwas, das man von aussen nicht sieht, aber es hat einen Einfluss. Ich habe bei Arsenal bei einem der besten Teams der Welt gespielt – dort zählt jedes Prozent. Seit dem Abszess erreichte ich nicht immer die 100 Prozent, ein Infekt beeinträchtigt den ganzen Körper. Ich habe gemerkt, dass es Zeit braucht, um wieder auf mein vorheriges Niveau zu kommen.
Inwiefern hat das Ihre Sicht auf die Heim-EM verändert?
In diesem Sommer ist alles perfekt für mich gelaufen. Ich war sehr erleichtert, als die EM fertig war und ich es überstanden und geschafft habe. Ich habe vieles gelernt – vor allem, wie schnell man über Dinge urteilt, die man nicht sieht. Das ist nicht fair und nicht gesund. Ich habe gelernt, dass es besser ist, Liebe weiterzugeben, statt immer kritisch zu sein. Und ich habe meine Gesundheit viel mehr zu schätzen gelernt. Ich habe bewusst vor und während des Turniers nicht über den Abszess gesprochen. Aber natürlich hat mich diese Ungewissheit permanent begleitet.
Viele sagen, der grösste Druck komme von einem selbst. War das bei dieser EM anders?
In diesem Sommer nahm das Ganze ein Ausmass an, das wir so noch nie erlebt haben. Der Druck kam nicht nur von den Medien, sondern auch aus dem persönlichen Umfeld. Freundinnen und Freunde hatten Tickets gekauft und fragten: «Kannst du spielen?» Das ist gut gemeint, erzeugt aber zusätzlichen Druck. An diesem Turnier war der Aussendruck massiv höher als alles, was ich zuvor erlebt habe. Den Eigendruck habe ich hingegen weniger stark gespürt, weil ich über meine Karriere hinweg gelernt habe, in entscheidenden Momenten zu funktionieren. Ich habe sehr daran geglaubt, dass es wieder klappt und ich beim Eröffnungsspiel auf dem Platz stehen werde.
Für das Schweizer Nationalteam debütierte Wälti 2011 als 17-Jährige. Seit mehreren Jahren ist sie Captain und das Gesicht des Teams. Die defensive Mittelfeldspielerin absolvierte bislang 134 Länderspiele und war bei allen fünf Endrundenteilnahmen der Schweizer Frauen-Nati Stammspielerin.
Neben dem Fussball studiert Wälti Betriebswirtschaft mit Vertiefung Sportmanagement im Fernstudium. Zudem ist sie Mitgründerin der «WNXT Agency», die Schweizer Sportlerinnen im Sponsoring und der Vermarktung unterstützt.
Es ist nicht das erste Mal in Ihrer Karriere, dass Sie Ihre Probleme offen ansprechen. Im Jahr 2023 reisten Sie mal aus der Nati ab und sagten, Sie bräuchten eine Auszeit. Wie bewusst entscheiden Sie sich jeweils für diesen Weg an die Öffentlichkeit?
Wenn ich mich entscheide, etwas öffentlich zu machen, ist das kein spontaner Schritt. Ich habe die gleichen Probleme wie andere Menschen – deshalb spreche ich darüber. Beim Abszess ist es aber anders: Ich habe sehr viele Fragen – und leider kaum Antworten. Deshalb ist es schwierig darüber zu reden. Als ich mir meine Auszeit nahm, wusste ich genau, was in mir vorging und konnte das transparent erklären. Grundsätzlich finde ich Offenheit wichtig, auch wenn gewisse Dinge privat bleiben dürfen. Was meine Karriere betrifft, halte ich Transparenz für richtig – auch um zu zeigen, dass bei Spitzensportlerinnen nicht immer alles perfekt ist.
Im Sommer wechselten Sie von Arsenal zu Juventus Turin. Wie kam es zu diesem Entscheid?
Nach der EM hatte ich Zeit zu reflektieren. Ich habe gemerkt, dass ich weiterhin Freude am Fussball habe und auf hohem Niveau spielen möchte. In den Gesprächen mit Arsenal spürte ich, dass sie nicht mehr mit einer klassischen Sechserin spielen möchten. Ich bin 32 und kann mich nicht komplett neu erfinden. Meine Stärken liegen klar auf dieser Position. Deshalb war die Zeit reif für eine Veränderung. Nach dem Turnier gab es Vereine, die auf mich aufmerksam wurden. Ich musste mich innerhalb weniger Tage entscheiden.
Was gab den Ausschlag für Juventus?
Es gab mehrere Gründe: eine neue Liga, eine neue Sprache und die Nähe zur Schweiz. In der Champions League hatte man gesehen, dass Juventus grossen Teams ein Bein stellen kann. Nach den Gesprächen hatte ich ein gutes Gefühl, deshalb ergab der Wechsel für mich Sinn. Ich liebe die englische Liga, aber für einen Konkurrenten von Arsenal zu spielen kam für mich nicht infrage.
Der Abschied von Arsenal war sehr emotional.
Ja, ich hatte wirklich ein gebrochenes Herz. Ich habe mir dort ein Zuhause aufgebaut. Es dauert Jahre, bis sich ein Ort so anfühlt. Der Abschied selbst war sehr schön und wertschätzend. Aber es ging extrem schnell. Ich hatte kaum Zeit, mich persönlich zu verabschieden. Das ist die Schattenseite dieses Lebens: Alles kann sich von heute auf morgen verändern.
Sie gelten als eine Pionierin des Frauenfussballs. Wie fühlt sich das an?
Ich tue mich mit diesem Wort etwas schwer. Ich habe sicher etwas mitbewegen können im Schweizer Frauenfussball, aber ich finde es einfach wichtig, dass ich meine Stimme nutze und für Verbesserungen sorgen kann. Ich freue mich natürlich zu sehen, dass es sich sehr entwickelt hat und wir einen Beitrag dazu leisten konnten. Schon frühere Generationen haben viel geleistet – ich hoffe, die nächsten führen diesen Weg fort.
Sie werden als Gesicht der Heim-EM in Erinnerung bleiben.
In dem Sinne, dass ich das Team über Jahre als Captain geführt habe, mag das stimmen. Aber viele kennen Alisha Lehmann, weil sie auch in den Sozialen Medien gross ist. Oder Sydney Schertenleib, weil sie ein riesiges Talent ist. Oder Géraldine Reuteler, die an der EM dreimal zur besten Spielerin gewählt wurde. Für die jungen Spielerinnen ist es sicher speziell, schon mit 19 sehr bekannt zu werden. Das war bei uns noch ganz anders.
Wie lange möchten Sie dieses Leben als Profifussballerin noch führen?
Ich hatte extrem privilegierte Jahre bei Arsenal, in denen ich mich sehr entwickeln konnte. Im Frauenfussball merkt man aber auch: Das Gras ist nicht überall gleich grün. Ich möchte weiterhin mein Bestmögliches geben und einen Beitrag leisten, den Frauenfussball weiterzuentwickeln. Die WM 2027 habe ich fest im Blick. Ich werde probieren, sie noch zu spielen. Aber das Wichtigste für mich ist einfach der Spass. Ich will nichts erzwingen. Ich habe sehr viele schöne Jahre in meiner Karriere erlebt und möchte sie nicht von schlechten letzten Jahren überschatten lassen.
Hatten Sie vor der EM überhaupt noch Spass am Fussball?
Natürlich! Der Druck war gross, aber auf eine Art und Weise war er auch schön. Ich habe diese Erwartungshaltung erarbeitet. Und schliesslich konnte ich diesen Sommer sehr geniessen. Spitzenfussball ist nicht immer spassig, aber wenn man mit Topspielerinnen auf höchstem Niveau arbeitet, ist es einfacher, Freude daran zu haben.
Wie sehen Sie die Tatsache, dass Nationaltrainerin Pia Sundhage trotz erfolgreicher Heim-EM gehen musste und nun durch den Spanier Rafel Navarro ersetzt wurde?
Diese Dinge kann man als Spielerin nicht beeinflussen, gehören aber zum Fussball. Ich bin generell Fan von Veränderungen, bei vielen Sachen im Leben. Ich finde, es gibt immer eine Chance, sich weiterzuentwickeln, sowohl individuell als auch als Team. Wir hatten wirklich eine tolle EM, das Trainerteam mit Pia Sundhage hatte viel damit zu tun. Gleichzeitig ist es aufregend, jetzt jemand Neues zu haben, der einen ganz anderen Fussball mit uns spielen wird, als wir ihn bisher gespielt haben.
Sie haben vorher die WM 2027 angesprochen. Die Qualifikation dürfte aber schwer werden.
Ich bin positiv und optimistisch, weil wir ein starkes Team haben und einen grossen Talentpool. Gerade die jungen Spielerinnen werden in den nächsten Jahren nochmals einen grossen Schritt machen. Deshalb bin ich überzeugt, dass wir die Qualität haben, uns für die WM zu qualifizieren.
Sie nehmen nicht mehr alle Interviewanfragen an. Grenzen Sie sich mehr ab als früher?
Die Medienaufmerksamkeit hat enorm zugenommen. Ich glaube, ich muss in den richtigen Momenten wissen, wann es genug ist. Früher hatte ich mehr Zeit für alles, aber meine Fussballwoche hat 50 Stunden, zudem studiere ich und habe eine Firma gegründet.
Erzählen Sie von Ihrer neuen Firma.
Ich habe zusammen mit meiner Schwester und meiner besten Freundin eine Agentur gegründet. Wir haben festgestellt, dass viele Fussballerinnen zu wenig Unterstützung bei Sponsoring, Medien und Vermarktung erhalten. Wir wollen das für Schweizer Athletinnen verbessern – nicht nur für Spielerinnen, auch für Schiedsrichterinnen, Trainerinnen oder andere Sportlerinnen. Wir begleiten sie beim Sponsoring, Medienarbeit und persönlicher Markenbildung.
Sehen Sie Ihre Zukunft nach der Fussballerinnen-Karriere in diesem Bereich?
Wir müssen jetzt erst einmal sehen, wie erfolgreich die Firma wird und ob sie sich so trägt, dass wir uns Löhne zahlen können. Derzeit sind wir in der privilegierten Lage, dass ich einen gut bezahlten Job habe als Fussballerin. Dadurch ist das Risiko relativ gering. Ob das wirklich mein Weg nach der Karriere sein wird, weiss ich heute noch nicht. Ich glaube schon, dass ich im Fussball bleiben werde – aber ich setze mich nicht unter Druck. Irgendwie finde ich meinen Weg. (aargauerzeitung.ch)
