Von Martigny dauert es knapp 45 Minuten mit dem Auto. Erst Richtung Grosser St. Bernhard. Danach, in Orsières, geht es rechts weg ins Val Ferret. Der Legende nach das Tal der Wölfe und Schmuggler. Zu sehen ist von beiden nichts. Dafür ganz viel unberührte Natur. Und ein paar wenige Dörfer wie Branche-d’en-Haut, wo die fünfköpfige Familie Yule zusammen mit acht anderen Menschen wohnte. Heute lebt Slalomfahrer Daniel Yule ein Dorf weiter oben, in La Fouly, 1600 Meter über Meer, am Ende der Welt, am Fuss des Mont-Blanc-Massivs, nur etwa fünf Kilometer Luftlinie vom Dreiländereck Schweiz–Frankreich–Italien entfernt. «Willkommen am schönsten Ort der Welt», begrüsst uns der sechsfache Weltcup-Sieger.
Sie haben sich im Abstimmungskampf für das Klimaschutzgesetz engagiert. Nun wurde es angenommen. Fühlen Sie sich als Gewinner?
Daniel Yule: Es ist ein erster Schritt. Und dieser freut mich sehr. Ich denke, dass wir langfristig alle Gewinner sind. Wenn man die Natur schont und nachhaltig lebt, profitiert am Ende jeder.
Haben Sie vor der Abstimmung gebangt?
Natürlich. Zum Glück habe ich am Abstimmungssonntag lange geschlafen, und als ich aufgewacht bin, zeichnete sich das Ja bereits ab. In den Tagen davor war ich nervös, weil ich der festen Überzeugung bin, dass wir in diesem Bereich Fortschritte machen müssen. Aber ich wusste bis zur Abstimmung nicht, ob ich mit dieser Einstellung zu einer Minderheit gehöre.
Auch Ihre Heimat Wallis hat Ja gesagt. Sind Sie überrascht darüber? Schliesslich gilt der Kanton nicht als besonders grün.
Im Wallis sieht man die Folgen des Klimawandels sehr stark (Yule zeigt hinter sich auf den Gletscher oberhalb von La Fouly; Anm. d. Red.). Ich erlebe es hautnah, wie der Gletscher schwindet. Das Gesetz kann helfen, dass sich das Wallis entwickelt.
Sie haben gesagt, es sei ein erster Schritt. Welche müssen folgen?
Ich bin weder Klimaexperte noch Wissenschafter. Ich bin einfach ein Sportler, der sich sorgt. Der Ball liegt nun bei der Politik. Ich kann darum nur von mir selbst sprechen: Es geht darum, mich nachhaltiger im Leben zu bewegen. Und das hört eigentlich nie auf.
Macht es Sie wütend, wenn Leute den Klimawandel leugnen, Sie aber täglich die Auswirkungen davon sehen?
Wütend nicht. Es ist einfach schwierig, es in der heutigen Zeit zu bestreiten. Natürlich, es hat im Verlauf der Geschichte immer wieder Schwankungen gegeben, mit Eiszeiten und wärmeren Perioden. Dass es aber in so kurzer Zeit passiert, ist bedenklich. Und dass der Mensch dabei einen Einfluss hat, ist nicht zu bestreiten. Aber die Erwärmung ist nur eine Sache. Wenn man sieht, wie viel Abfall produziert wird, wie hoch die Belastung der Luft ist … Wer dann behauptet, es gäbe kein Problem, lebt wohl in einem Keller ohne Fenster.
Der ehemalige und mittlerweile verstorbene Präsident des Internationalen Skiverbandes FIS, Gian Franco Kasper, sagte, es gäbe den Klimawandel nicht.
(Schüttelt den Kopf.) Das habe ich überhaupt nicht verstanden. Diese Aussagen waren mit ein Grund, um mich öffentlich zu positionieren. Schon damals und bis heute ist mir bewusst, dass es als Skiprofi schwierig ist, sich darüber zu äussern, weil durch all die Reisen mein CO₂-Fussabdruck um einiges über dem Durchschnitt liegt. Aber wenn man es verneint, ist das nochmals schlimmer. Deshalb habe ich gesagt: Nein, nein, nein, so geht das nicht. Gerade weil sich der Skisport um solche Dinge noch mehr Gedanken machen muss als andere Sportarten.
Findet mit dem neuen FIS-Präsidenten Johan Eliasch ein Richtungswechsel statt?
Es gab Änderungen mit dem neuen Präsidenten. Aber es liegt nicht allein an ihm. Es ist der gesellschaftliche Druck, der steigt. Wenn man sieht, dass die Formel 1 – also Menschen mit Benzin im Blut – bis 2030 klimaneutral sein will, dann zeigt das den Zeitgeist. In diese Richtung muss auch die FIS gehen.
Aber in der vergangenen Saison sind Sie für einen Slalom in die USA geflogen.
Genau. Und in der kommenden Saison reisen wir für zwei in die USA, was schon mehr Sinn macht. Gleichzeitig muss man bedenken: Wir sind ein Weltcup, da können wir nicht nur Skirennen in der Schweiz, Österreich und Italien durchführen. Weite Reisen gehören dazu, aber man sollte das möglichst sinnvoll planen.
Sie selbst müssten eigentlich mehr Disziplinen fahren, um Ihr Gewissen zu beruhigen.
Das stimmt. Aber es liegt leider nicht am Wollen, sondern am Können.
Wie gut fühlen Sie sich mit Ihren Anliegen in Sachen Nachhaltigkeit bei Swiss-Ski verstanden? Präsident Urs Lehmann sagte zuletzt, er wisse nicht, ob sich Athleten wie Sie überlegen, was sie da überhaupt sagen.
Sagen wir es so: Unterstützung erhalte ich nicht. Aber es ist auch nicht so, dass ich dadurch Nachteile hätte oder sie es mir verbieten würden, meine Meinung zu äussern. Eigentlich müsste mir Urs Lehmann dankbar sein, weil ich ein Stück weit seinen Job mache.
Wie meinen Sie das?
Es wird noch Schnee geben, solange ich im Weltcup dabei bin. Swiss-Ski als Verband müsste sich aber weit grössere Sorgen machen. Vielleicht kann man in 30 Jahren in La Fouly nur noch ein oder zwei Monate im Jahr Ski fahren. Als ich ein Kind war, war Anfang Dezember fast immer das ganze Skigebiet offen. Jetzt ist es öfters passiert, dass während Weihnachten alles geschlossen war. Und hier sind wir auf 1600 Metern. Im Jura oder im Berner Oberland liegen die Skiorte oft noch tiefer. Wenn dort die Leute nur noch zwei Wochen im Jahr Ski fahren können, gibt es vielleicht bald keine Skiklubs und irgendwann auch keine Skifahrer mehr. Als Kinder haben wir im Sommer Fussball gespielt, und im Winter waren wir alle im Skiklub.
Und ein paar davon wurden Skiprofis.
Genau. Nehmen wir Didier Cuche, der in Le Paquier das Skifahren gelernt hat. Vielleicht gäbe es in 20 Jahren keinen Didier Cuche mehr. Oder mit Beat Feuz und Schangnau ist es das Gleiche. Als Verband müsste Swiss-Ski doch klar sein, dass man sich Gedanken machen sollte. Die Hand, die uns im Skisport füttert, ist der Himmel. Ohne Schnee fahren wir nicht. Natürlich gibt es Kunstschnee. Aber irgendwann heisst es vielleicht aufgrund von Wassermangel, das geht nicht mehr. Und überhaupt, das Schöne am Skisport ist doch auch die winterliche Landschaft und nicht die weisse Schlange, die sich den Hang herunterzieht.
Die Bilder aus Adelboden gingen im Januar um die Welt.
Das Rennen selbst war aufgrund der enorm vielen Zuschauer ein Fest. Aber bucht jemand, der diese Bilder sieht, in Adelboden Skiferien? Langfristig sind solche Bilder sowohl für den Skisport als auch den Tourismus nicht gut.
Wenn wie während der Ski-WM rund 400 Athletinnen und Athleten in einem offenen Brief, den auch Sie unterschrieben haben, von der FIS einen stärkeren Fokus auf die Nachhaltigkeit fordern, werden die Athleten da überhaupt gehört?
(Überlegt lange.) Ich bin nicht wie Julian Schütter (Initiant des offenen Briefes; Anm. d. Red.). Er klebt sich auf der Strasse fest. Für mich ist das ein Blödsinn. Das verärgert mehr, als es etwas bringt. Ich will den Leuten nicht sagen, was sie machen müssen.
Sie sind kein Missionar?
Nein. Ich sehe die Bemühungen im Kampf gegen den Klimawandel auch ein wenig aus Sicht des Sportlers. Wenn ich sehe, wie ich vor 15 Jahren Ski gefahren bin, hätte ich nie gedacht, dass aus mir mal ein Weltcup-Sieger wird. Alles braucht Zeit. Deshalb kann man nicht erwarten, dass der Skisport nächstes Jahr klimaneutral wird. Aber wenn man den Weg der kleinen Verbesserungen nicht startet, kommt man nie ans Ziel. Von Jahr zu Jahr verändert sich wenig, aber wenn man 15 Jahre zurückblickt, merkt man: Es ist eben doch eine riesige Veränderung passiert. Dieses Denken zu etablieren, ist mein Ziel.
Marco Odermatt hat den offenen Brief nicht unterzeichnet. Er sagte, er könne nicht vorleben, was gefordert werde. Verstehen Sie ihn?
Ja, sicher. Wenn man sich positioniert, setzt man sich Kritik aus. Allerdings geht es auch immer mehr in die Richtung, dass man kritisiert wird, wenn man sich nicht einsetzt. Aber für Odi ist es auch schwierig. Er fährt drei Disziplinen, und wenn man den Kalender anschaut, dann hat er wirklich keine andere Wahl, als so zu leben, wie er lebt. Allerdings könnte es die FIS den Athleten auch leichter machen, sich zu positionieren, indem sie es selbst tut.
Sie fahren nur Slalom. Und dafür braucht es massiv weniger Kunstschnee als für eine Abfahrt. Müsste man die Abfahrt aus Gründen der Nachhaltigkeit abschaffen?
Ich hoffe nicht. Das würde mich traurig machen.
Man könnte auch weiter gehen. Passt der Skisport, auch der touristische, noch in unsere Zeit?
Bei allem Engagement – man muss auch noch leben. Ich habe eine sehr grosse Leidenschaft für den Skisport, ein Leben ohne kann ich mir nicht vorstellen. Klar ist, Auswirkungen auf die Umwelt hat das eigene Handeln immer, ausser man lebt als Einsiedler und Selbstversorger.
Themawechsel: In Ihrem Wohnort La Fouly gibt es noch 80 dauerhafte Einwohner.
So viele?
Offenbar. Und ein Dorf weiter unten, wo Sie aufgewachsen sind, wohnen noch etwa 13 Menschen. Warum sind Sie in dieser verlassenen Gegend geblieben?
Warum? Schauen Sie sich um, das erklärt sich von allein. Wenn man ein Naturmensch ist, gibt es nichts Besseres. Ich liebe die Natur, die Stille, die Abgeschiedenheit.
Aber hier zu leben, ist auch beschwerlich. Der Weg in die Mittelschule kostete Sie mehr als eine Stunde. Und was war mit Ausgang? Was macht man als 16-Jähriger hier?
Nichts, und vielleicht bin ich deswegen Skifahrer geworden (lacht). Ich habe nie damit gehadert, dass sich die Eltern hier niedergelassen haben. Im Gegenteil: Ich habe es geliebt und liebe es noch immer. Ich habe vielleicht nie eine vollbesetzte U-Bahn gesehen, dafür jede Menge Kühe und andere Tiere.
Wie geht es Ihnen, wenn Sie das mächtige Bergpanorama betrachten? Wird man da demütig?
Ja, aber ich fühle mich auch sonst nicht so wichtig. Die Umgebung hilft mir, die Dinge einzuordnen, die Relationen zu wahren. Erst recht, wenn es im Skifahren mal nicht so läuft.
Viele Wegbegleiter bezeichnen Sie als Kopfmenschen. Einverstanden?
Ich versuche, erst zu überlegen, bevor ich etwas sage oder mache. Das gelingt mir vielleicht nicht immer. Aber ich bin rational. Doch als Sportler kann man nicht nur Kopfmensch sein.
Auf der Piste wirken Sie sehr emotional.
Eben. Ich kann Ihnen nicht erklären, warum ich so gerne Ski fahre. Es ist einfach ein Gefühl. Und ich kann Ihnen auch nicht erklären, warum ich für 13 Slaloms tage- und wochenlang im Kraftraum leide. Rational macht das null Sinn.
Die Schatten der Abfahrtsklassiker von Wengen und Kitzbühel sind lang. Erhält der Slalom den Stellenwert, den er verdient?
Was Marco Odermatt leistet, ist absolut krass. Und die Aufmerksamkeit, die er hat, ist verdient. Aber was wir im Slalomteam leisten, ist auch nicht schlecht. Letzten Winter haben wir vier Slaloms gewonnen. Ich glaube nicht, dass es das schon mal gegeben hat. Ich übertreibe jetzt ein wenig: Aber irgendwie habe ich das Gefühl, ob ich da bin oder nicht, spielt keine Rolle. Oder hat irgendjemand realisiert, dass ich den Slalom von Kitzbühel gewonnen habe?
Seit es den Weltcup gibt, hat noch nie ein Schweizer die Slalomwertung gewonnen. Woran liegt das?
Reine Spekulation: Slalom ist eine andere Sportart. Es braucht sehr viel Zeit, um im Slalom erfolgreich zu sein. Viele grosse Fahrer wie Bode Miller und Beat Feuz haben sich über den Slalom dem Weltcup angenähert. Aber wenn man auf Slalom setzt, ist es enorm schwierig, in einer anderen Disziplin vorne dabei zu sein, weil der Slalom so viel absorbiert. Also wechseln viele auf die schnelleren Disziplinen, die eher kompatibel zueinander sind.
Warum sind Sie dem Slalom treu geblieben?
Einerseits, weil ich relativ schnell unter die besten 15 fuhr. Danach stellte ich mir die Frage: Wo ist die Chance am grössten, mal aufs Podest zu fahren? Die Antwort: im Slalom. Also bin ich geblieben.
Ihr Trainer Matteo Joris sagt, Ihr Leben sei eine einzige Challenge. Worum haben Sie zuletzt gewettet?
Ich bin ein Wettkampftyp, ich mag es, wenn es um etwas geht. Auch wenn es nur um die Ehre geht. Die letzte Wette? Wohl beim Golf um eine Pizza.
Brauchen Sie diesen Thrill?
Brauchen nicht, aber es macht das Leben spannender. Es spornt mich zusätzlich an, wenn etwas auf dem Spiel steht. In der Schule hatte ich auch lieber Prüfungen als Unterricht und Hausaufgaben.
Andere haben Prüfungsangst.
Das kenne ich nicht. Ich sehe es als Bestätigung, ob ich etwas kann oder nicht. Etwas zu machen, wenn es niemanden interessiert, finde ich viel weniger spannend, als etwas zu machen, wenn es wirklich zählt.
Aber gefühlt 99 Prozent Ihrer Arbeit leisten Sie, wenn es nicht zählt.
Deshalb ist der Sommer für mich sehr lang. Und wenn ich im Training zwei Sekunden langsamer bin als die anderen, sage ich mir: na und? Entscheidend ist das Rennen.
Ihr Trainer sagte auch: Daniel Yule hat mit seiner noch nicht sehr guten Technik sechs Weltcup-Rennen gewonnen. Macht Sie das stolz oder sauer?
Er ist mein Trainer, also ist er für meine Technik verantwortlich (lacht). Nein, im Ernst: Das macht mich stolz. Ich werde meine Karriere nicht als Rekordsieger beenden. Mein Weg vom Achtjährigen, der hier erstmals durch die Tore gefahren ist, bis zum sechsfachen Weltcup-Sieger war wohl viel länger und beschwerlicher als jener von Henrik Kristoffersen.
Warum?
Bei ihm hiess es schon als Kind, dass er mal sehr gut werden würde. Deshalb bin ich stolz darauf, was ich bis jetzt erreicht habe, obwohl ich nie als Talent gehandelt wurde.
Tatsächlich?
Ja. Sie können jeden im Tal fragen, ob Yule als Kind gut Ski gefahren ist. Keiner wird Ja sagen.
Haben Sie spät angefangen?
Nein. Einfach gesagt: Ich bin kein guter Skifahrer. Aber ich bin ein guter Rennfahrer.
Man muss nicht perfekt sein, um das Klima zu schützen.