Das Treffen findet aus gutem Grund am späteren Nachmittag statt. Bis am frühen Morgen hatten Mämä Sykora und sein kleines Redaktionsteam an der Jubiläumsausgabe gefeilt, morgens um sechs wurden die fertigen Seiten an die Druckerei übermittelt.
Ihr habt bis zur letzten Minute daran gearbeitet, nun steht das Heft. Was dürfen wir von Ausgabe 100 erwarten?
Mämä Sykora: Sie ist ein kleines Geschenk an uns selber. Die üblichen Rubriken haben wir für dieses Heft durch eine wunderbare Liste ersetzt: Wir haben 100 Spieler gekürt, die in der Schweiz irgendetwas ausgelöst haben. Das sind weder die 100 besten noch die 100 schönsten, sondern wenn man so will, die 100 ungewöhnlichsten Fussballer der Geschichte.
Kannst du uns ein, zwei Kandidaten verraten?
Namen möchte ich noch keine nennen. Aber was ich verraten kann, ist, dass auf den vorderen Rängen längst nicht nur Spieler sind, die jeder kennt. Das ist für uns charakteristisch, denn unser Untertitel lautet «Fussballgeschichten aus der Schweiz». Die 100 Spieler haben alle eine besondere Geschichte. Das führt dann zum Beispiel dazu, dass ein Amateurgoalie weit vor einem wie Stéphane Chapuisat klassiert sein kann.
Und je kurioser diese Geschichte ist, umso höher im Ranking ist ein Spieler?
Nicht ganz, es ist keine Sammlung von Absurditäten. Es sind Spieler, die in irgendeiner Form eine Bedeutung haben. Bei denen auf den vorderen Rängen ist diese besonders gross oder speziell. Man muss womöglich unser Heft kennen, damit man die Rangliste nachvollziehen kann. Aber für uns passt das Ergebnis.
Es war wohl eine ziemlich aufwändige Arbeit, diese Liste zu erstellen.
Oh ja! Wir hatten zunächst eine Longlist von rund 500 Spielern – nur Spieler, keine Trainer oder Präsidenten – und haben diese in einem ersten Schritt eingedampft. Danach schrieben wir die hundert ausgewählten Namen auf, schnitten sie aus, breiteten all die Zettelchen vor uns auf dem Tisch aus und versuchten, eine Reihenfolge hinzukriegen. Einmal sassen wir elf Stunden am Stück dran. Wir hatten unendlich viele Diskussionen. Für den einen war ein Spieler zwingend in den Top 5, für die anderen gehörte er nicht mal in die Top 100.
Ohne seinen Rang zu nennen: Kannst du uns deinen persönlichen Lieblingsspieler auf der Liste verraten?
Ich glaube, das ist Silvan Aegerter. Er hatte Elektriker gelernt, spielte dann für 3000 Franken in Thun, schaffte es mit Thun in die Champions League, danach gelang ihm das auch mit Zürich und nach einem kurzen Halt in Lugano hörte er als Profi auf. Ohne sich eine Auszeit zu nehmen, griff er zum Hörer und rief beim FC Münsingen an, ob sie ihn brauchen könnten. Er wurde wieder Hobbyfussballer, sie vermittelten ihm dazu einen Job und seither steht er wieder frühmorgens auf und arbeitet als Stromer auf der Baustelle, als wäre er nie ein Champions-League-Fussballer gewesen. Für die heutige Zeit ist das schon sehr ungewöhnlich.
In 100 Ausgaben kommen jede Menge Artikel zusammen. Hast du eine Lieblingsstory aus all den Jahren?
Zwei sind mir besonders in Erinnerung geblieben. Da war zum einen ein Treffen der drei ehemaligen Nationaltrainer Köbi Kuhn, Gilbert Gress und Paul Wolfisberg, mit denen wir uns gemeinsam an einen Tisch hockten und sie einfach plaudern liessen. Das war fantastisch. Und die andere Geschichte, die ich auch typisch für unser Magazin finde, war jene des «Kongo-Charly». Charles Pulfer kickte in den 70er-Jahren als Hobbyfussballer im Seeland, ging dann beruflich nach Afrika und wurde vor zehntausenden Zuschauern Cupsieger im Kongo. (Die Geschichte kannst du hier lesen.)
Gab es in all den Jahren Geschichten, die euch über euer Stammpublikum hinaus bekannt gemacht haben?
Wir haben in der jüngsten Modusdebatte relativ oft unseren Senf dazugegeben. Da wurden wir stark wahrgenommen, Artikel von uns machten die Runde. Ansonsten werden natürlich Interviews oft und gerne zitiert, besonders wenn die Protagonisten uns Dinge erzählen, die sie andernorts vielleicht nicht erwähnen würden. Wobei sich das stark geändert hat seit unseren Anfängen. Heutzutage muss ein Interview in der Regel noch von Klubs oder Spielerberatern gegengelesen werden und manche brisante Aussage wird leider herausgestrichen.
Du hast die Diskussionen über Playoffs im Schweizer Fussball angesprochen. Da darf man schon festhalten, dass dein Engagement vermutlich einen wesentlichen Anteil daran hatte, dass der Beschluss rückgängig gemacht wurde. Macht dich das stolz?
Ich würde das selber nicht so formulieren, daran waren viele beteiligt, von unserer Redaktion bis zum Klubpräsidenten. Ich war sicher eine der lauteren Stimmen gegen die Playoffs. Anfangs standen wir auf verlorenem Posten, aber an einer Podiumsdiskussion in Bern spürte ich, dass man den Beschluss vielleicht doch noch einmal kippen könnte. Und weil ich das mit den Playoffs eine so furchtbare Idee fand, habe ich mir sehr viel Zeit genommen, um die Entscheidungsträger mit Argumenten zu überzeugen, es sich noch einmal gut zu überlegen. Ich finde es schon beachtlich, dass man sich im grossen Profifussball zumindest anhört, was einer zu sagen hat, der bloss ein «trümliges Heftli» verantwortet. Ja, das macht mich schon ein wenig stolz.
Wie hat sich dein Blick auf den Fussball verändert, seit ihr im Jahr 2007 erstmals erschienen seid?
Es ist so, dass der Fussball, je näher man dran ist, umso mehr seine Magie verliert. Man stellt fest: Da ist wenig magisch, es sind auch einfach Leute, die arbeiten gehen. Ich kann mich noch gut an eines meiner allerersten Interviews erinnern, als ich mich in Aarau mit Sandro Burki und Jonas Elmer traf. Sie schüttelten allen brav die Hand, putzten die Schuhe selbst und waren im Gespräch so schüchtern, dass ich mich gefragt habe, was da los ist. Sie waren doch die Fussballer und ich bloss ein Interviewer! Aber in der Schweiz ist natürlich auch alles eine Nummer kleiner als in den grossen Ligen. Früher blickte ich eher auf, heute sehe ich hinter die Kulissen und lasse ich mich nicht blenden vom Flutlicht des Profifussballs.
Aber Fussballfan bist du geblieben?
Vom Schweizer Fussball: ja. Das möchte ich betonen. Da bin ich immer noch ein Fan. Vom grossen Rest nicht.
Warum denn lieber ein Super-League-Spiel statt eines aus der Premier League? Was fasziniert dich am Schweizer Fussball so?
Ich finde es sehr, sehr lässig, dass man in der Schweiz mit guter Arbeit etwas erreichen kann. Natürlich gibt es auch bei uns finanzielle Unterschiede. Aber Thun schafft es in die Champions League. Zürich wird Meister und nicht schon wieder YB oder Basel. St. Gallen kann bis zuletzt um den Meistertitel spielen. Gute Arbeit wird belohnt und – was ich fast noch wichtiger finde – schlechte Arbeit wird bestraft. Zürich stieg ab, GC stieg ab, aktuell ist Basel schlecht unterwegs.
Und das ist in den grossen Ligen nicht so?
Mit endlos viel Geld kann dir nicht viel passieren. Kauft ein Schweizer Klub einen Spieler für zwei Millionen Franken und er schlägt nicht ein, kann das über seinen Ligaerhalt entscheiden. Wenn hingegen in England ein Klub einen Spieler für 52 Millionen holt, und er nicht gut ist, dann kauft er sich halt einen für 74 Millionen. Es ist völlig egal, denen kann nichts passieren. In der Schweiz hingegen muss sich ein Klub ganz genau überlegen, was er mit seinen Mitteln macht, und das gefällt mir.
Man spricht ja häufig davon, dass dem Sport «die Typen» ausgehen, dass alle gleichströmig werden. Für euch ist das bestimmt keine gute Entwicklung.
Das ist wirklich ein wenig ein Problem. Es geht aber vielleicht gar nicht um die Charaktere allein, sondern um die Umstände. Kaum ein Spieler bleibt unserer Liga lange erhalten. Wenn du Fan eines Klubs bist, dann ist es vermutlich schwierig, fünf Spieler des Gegners aufzuzählen. Und wenn du es schaffst, dann sind sie in der Winterpause weg. In dieser kurzen Zeit, in der sie da sind, ist es schwierig, ein Image zu erhalten. Wenn früher Mario Cantaluppi auf Ricci Cabanas traf, dann wusstest du: Heute kracht es. Das ist nicht mehr so. Immerhin gibt es noch Leute wie Lukas Görtler oder Miroslav Stevanovic, das sind auf ihre Arten auch Typen.
Aber alles ist ja nicht schlechter geworden. Die Zuschauerzahlen in der Schweiz zum Beispiel sind hervorragend.
Das ist fantastisch, es gehen so viele Fans ins Stadion wie nie zuvor. Es ist «in», zum Fussball zu gehen. Das Erlebnis zieht vor allem Junge an: Es läuft etwas, ich kann singen, ich gehöre dazu. Das ist die eine Seite, die wächst. Aber ich weiss nicht, ob die Super League als Fernsehsport funktioniert. Da ist die Verlockung schon gross, anstatt bei Luzern – Stade Lausanne-Ouchy bei Liverpool – Manchester City einzuschalten. Aber ich hoffe, dass all die Jüngeren in der Fankurve, die Liebe zum Fussball finden, später auf die Gegentribüne wechseln – und dann natürlich unser Magazin abonnieren.
Ich vermute, dass ein Grossteil eurer Leser mit euch zusammen älter geworden ist.
Wenn uns Leser eine Adressänderung mitteilen, dann schreiben das einige mit Feder auf eine Postkarte (lacht). Das ist natürlich übertrieben. Aber es ist sicher so, dass nur wenige in den Zwanzigern wohl schon zu unseren Abonnenten gehören, wobei das nicht primär an uns liegt. In dem Alter ist die Bereitschaft, ein Printprodukt zu abonnieren, sehr gering.
Wie schwierig ist der Spagat, sowohl die jüngeren wie auch die älteren Leser zufrieden zu stellen?
Früher gingen wir davon aus, dass unsere Leser das gleiche Vorwissen haben wie wir. Aber wenn jetzt ein 28-Jähriger das Heft liest und wir über Claudio Sulser schreiben, ohne ihn näher zu beschreiben, denkt er sich: Who the fuck is Claudio Sulser?! Da müssen wir stets die Balance finden, wie wir die Jüngeren erreichen, ohne dass bei Älteren der Eindruck entsteht, wir hätten das Gefühl, sie wüssten rein gar nichts. Aber es ist nicht unser Ziel, uns so auszurichten, dass das Heft mehr die Jungen anspricht – eben auch, weil vor 30 kaum jemand ein Magazin abonniert.
Das «Zwölf» gibt es nun seit 16 Jahren. Ein talentierter Fussballer wird in diesem Alter schon längst von Grossklubs umworben. Wurdet ihr auch schon von Verlagen kontaktiert?
Ja, aber für uns war das überhaupt nie ein Thema. Wenn man Teil eines Grossverlags ist, dann besteht die Gefahr, dass dieser auch inhaltlich mitreden will. Und da sind wir sehr streng, das hat bei uns null Chancen.
Wie seid ihr denn organisiert?
Wir sind ein Verein und kochen auf sehr kleiner Flamme. Ich habe ein Büro in einer Zwischennutzung, niemand von uns ist zu hundert Prozent angestellt. Es geht nur mit viel Herzblut, und weil von Redaktion über Grafik bis zu den freien Autoren jeder massiv mehr arbeitet, als er für dieses Honorar eigentlich müsste. Dazu haben wir viele Leser, die als «Nummer Zwölf» einen Beitrag über den Abo-Preis hinaus spenden. Die sind absolut Gold wert.
Das ideale Präsent für alle mit Passion für die schönste Nebensache der Welt. Und wann wäre ein besserer Zeitpunkt einzusteigen als unsere 100. Ausgabe, die vor Weihnachten erscheint? Bestellungen bis 22. Dezember mittags landen rechtzeitig im Briefkasten!https://t.co/yA4QSV9wgJ pic.twitter.com/AjQUU1LmEZ
— zwölf (@zwoelf_mag) December 19, 2023
Wie geht es euch denn finanziell? Grundsätzlich ist es eher nicht so, dass Printprodukte am boomen sind.
Würde man die Printlandschaft aufgrund unseres Hefts beurteilen müssen, käme man nicht darauf, dass es dem Print schlecht geht. Wir haben seit der ersten Ausgabe steigende Abonnentenzahlen. Natürlich steigen sie nicht mehr so steil an wie am Anfang, aber sie gehen nach oben. Wir sehen nach wie vor Wachstumspotenzial. Schwieriger wurde die Situation auf dem Werbemarkt, viele Firmen verzichten zunehmend auf Inserate im Print. Unsere Einnahmen basieren allerdings vor allem auf den Abonnenten.
Vieles verändert sich im Schweizer Fussball, einer, der in eurer Zeit immer da war und für Kurzweil sorgte, ist Sions Präsident Christian Constantin. Wer hält länger durch: Du beim «Zwölf» oder er?
Ich tippe auf mich. Im Gegensatz zu CC sage ich nicht dauernd, dass ich bald aufhöre, nur um dann doch weiterzumachen. Ich habe ausserdem nicht wie er einen Sohn, den ich ans Business heranführen kann, und mit meinen Hunden käme es wahrscheinlich nicht so gut. Ich habe schon vor, das Heft noch so lange zu machen, wie es gefragt ist.
Danke Mämä und Team für dieses wunderbare Werk zur wunderbarsten Nebensächlichkeit der Welt :)