Hintermann besiegte den Krebs und sagt: «Gibt bei mir keine kitschige Story zu erzählen»
Niels Hintermann ist zurück in Gröden. Die Weltcupstation in den Dolomiten hat in der Karriere des 30-Jährigen einen besonderen Stellenwert. 2015 gewann er hier seine ersten Weltcuppunkte und vor vier Jahren fuhr er an gleicher Stelle zum ersten Mal auf ein Abfahrtspodest.
Donnerstag, 18. Dezember: Abfahrt in Gröden, Start: 11.45 Uhr
Freitag, 19. Dezember: Super-G in Gröden, Start: 11.45 Uhr
Samstag, 20. Dezember: Abfahrt in Gröden, Start: 11.45 Uhr
Sonntag, 21. Dezember: Riesenslalom in Alta Badia, Start 1. Lauf: 10 Uhr, Start 2. Lauf: 13.30 Uhr
Montag, 22. Dezember: Slalom in Alta Badia, Start 1. Lauf: 10 Uhr, Start 2. Lauf: 13.30 Uhr
Trotzdem ist es dieses Jahr anders. Resultate sind maximal zweitrangig. Allein der Fakt, dass Hintermann zurück im Weltcup ist – und damit im Kreis der besten Abfahrer –, ist aussergewöhnlich. Vor 14 Monaten wurde beim Zürcher Lymphdrüsenkrebs diagnostiziert. Zwar hat er den Krebs mittlerweile besiegt. Doch so wie früher ist deswegen längst nicht alles.
Wie fühlt es sich an, wieder Abfahrer im Weltcup zu sein?
Niels Hintermann: Es macht nach wie vor sehr viel Spass.
Die letzte Abfahrt, die Sie bestritten haben, bevor Ihre Krankheit entdeckt wurde, konnten Sie gewinnen. Nun fuhren Sie bei Ihrem Comeback vor zwei Wochen auf Rang 20. Können Sie das einordnen?
Definitiv. Wenn man so lange weg war, fängt man wieder an einem ganz anderen Punkt an. Nicht nur skifahrerisch, auch körperlich und mental. Früher oder später werden alle Teile des Erfolgspuzzles wieder zusammenpassen. Aber an diesem Punkt bin ich noch lange nicht. Der Weg stimmt. Es gibt vieles, worauf ich aufbauen kann. Aber man muss die Gesamtsituation nüchtern betrachten: Die Konstanz fehlt und es wird mehr Ups und Downs geben als vor der Krankheit.
Glauben Sie, dass die Krankheit, dass alles, was Sie durchmachen mussten, Ihren Blick auf den Skisport nachhaltig verändern wird?
Am Ende des Tages bleibe ich Rennfahrer. Ich werde mich auch weiterhin über Fehler und schlechte Abschnittszeiten aufregen. Aber ich kann heute Negatives schneller abschütteln und mich auf die positiven Dinge konzentrieren. Schliesslich gibt es auch in schlechten Fahrten meist gute Abschnitte. Heute schaue ich mir beide Seiten einer Medaille an. Früher war etwas entweder gut oder schlecht. Heute erkenne ich, dass das eine das andere nicht per se ausschliesst.
Haben Sie sich als Mensch auch abseits der Piste verändert?
Das müsste man wohl andere fragen. Ich habe das Gefühl, dass ich generell in bestimmten Situationen anders reagiere. Ich lasse schlechten Dingen weniger Raum. Und ich ärgere mich weniger.
Vor der Saison sagten Sie, Sie seien demütiger geworden. Ist das etwas, das Sie weitergeben wollen? Zum Beispiel an junge Athleten, damit diese in ihren Karrieren nicht die gleichen Fehler machen wie Sie.
Am Ende des Tages muss jeder seinen eigenen Weg gehen. Man kann niemandem sagen, mach das so, oder mach das eben genau nicht. Ich hätte mir in der Vergangenheit sehr viel ersparen können, wenn ich nicht aus jeder Fliege einen Elefanten gemacht hätte. Manchmal muss man mit dem Kopf durch die Wand, damit man Dinge lernt. Das Leben ist ein Prozess. Es sind Dinge wie meine Krankheit, die den Prozess verändern oder die Persönlichkeit ein wenig reifer machen.
Zumindest gegen aussen wirkte es so, als ob Sie Ihrer Krankheit mit einer bewundernswerten Zuversicht entgegentraten. Gab es nie Momente, in denen Sie mit dem eigenen Schicksal gehadert haben?
Die Diagnose war da und ich konnte sie nicht ändern. Deshalb ging es nur darum, möglichst schnell wieder möglichst fit zu werden, um irgendwie gesund da herauszukommen. Ich war nie negativ, ich dachte nie: «Wieso hat es mich getroffen? Oder warum habe genau ich diese Krankheit?» Natürlich – es gab Tage, da schaffte ich es kaum vom Bett aufs Sofa, weil mein Körper von der Chemotherapie so am Anschlag war. Das hat mich angeschissen, aber ich habe es akzeptiert.
Wie ist es Ihnen gelungen, so positiv zu bleiben?
Wenn man einmal auf der Onkologie war – egal ob im Wartezimmer oder im Bestrahlungsraum – und sieht, welche Schicksale andere Menschen erleiden, dann ist meine Erkrankung Pipifax. Zu erfahren, dass die eigene Behandlung anschlägt und es einem ziemlich gut geht, macht demütig. Ich erlebte, dass meine schlechtesten Tage für andere Patienten Standard sind und das erst noch über einen viel längeren Zeitraum. Da erkannte ich, dass es mir nicht zusteht, zu jammern.
Sehen Sie sich als Vorbild für andere Krebspatienten?
Nicht im Sinne von: «Hey, man schafft das schon!» Aber vielleicht zeigt meine Geschichte, dass jeder Scheissphasen in seinem Leben haben kann. Aber gleichzeitig auch, dass man aus ihnen lernen kann.
Sie kommunizierten Ihre Krankheit sehr offen. War das so geplant?
Ich wusste, dass spätestens, wenn ich nicht im Aufgebot für die ersten Rennen stehe, ohnehin Fragen kommen. Ich wollte lieber selbst aktiv werden. So konnte ich bestimmen, wann es etwas zu sagen gibt. Es kamen nicht ständig Fragen, weil die Leute wissen wollten, was los ist.
War für Sie immer klar, dass Sie auf die Piste zurückkehren werden?
Ja. Es gibt bei mir keine kitschige Story zu erzählen, dass mir die Ärzte erklärt hätten, dass ich nie wieder werde Skifahren können und ich es trotzdem geschafft habe. Klar war aber, dass ich eine Saison verpasse.
Sie beschäftigen sich neben dem Skifahren trotzdem bereits intensiv mit der Karriere nach dem Sport. Sie sind Co-Gründer des Athletes Network, einer Firma, die sich mit diesem Thema auseinandersetzt.
Dieser Bereich einer Sportkarriere steht viel zu selten im Fokus. Es gibt so viele Beispiele von Sportlern, die nach dem Karriereende in ein Loch fielen. Oder nehmen wir ein anderes Beispiel: Die wenigsten Sportler haben in ihrer Karriere so viel verdient, dass sie ausgesorgt haben. Die meisten müssten ab Tag eins nach dem Ende der Sportkarriere arbeiten, stehen aber vor dem Nichts. Wenn du dich dann bewerben musst, spielt es keine Rolle, ob du Niels Hintermann bist oder ob du dieses oder jenes Rennen gewonnen hast. Deine Konkurrenten sind Master-Absolventen, haben den Bachelor oder Doktortitel. Und du hast keine Berufserfahrung. Darum muss man diesen nächsten Schritt clever aufgleisen. Und das unterstützen wir.
Sie selbst absolvieren ein Betriebswirtschafts-Studium.
Ich habe während der Chemo sogar meine Semesterprüfungen bestanden. Danach entschied ich mich bewusst für eine Pause. Ich wollte mir ein Jahr Zeit geben, um meinem sportlichen Comeback alles unterzuordnen. Ich wollte mir später nicht vorwerfen müssen, ich hätte nicht alles versucht. Dafür ist mir der Skisport zu wichtig.
Wie erlebten Sie den Weg zum Comeback?
Während der Chemotherapie konnte ich zu Beginn eigentlich recht viel machen. Also nicht im Sinn von Spitzensport. Aber regelmässige Bewegung war möglich. Dann ging aber auch das nicht mehr. Als ich im vergangenen Januar erstmals wieder auf den Ergometer stieg, hielt ich selbst bei minimaler Belastung kaum eine halbe Stunde durch. Heute bin ich körperlich schon fast wieder dort, wo ich vorher war.
Eigentlich unglaublich. Wie haben Sie das geschafft?
Mit sehr viel Fleiss. Wir haben aber auch sehr vieles richtig gemacht. Ich habe sehr intensiv mit den Ärzten zusammengearbeitet, weil es auch darum ging, sehr genau auf meinen Körper zu achten. Es gab keinen Fahrplan, wie beispielsweise nach einem Kreuzbandriss, wo man sagen kann, jetzt müsste in etwa das und das wieder möglich sein. Bei mir war vieles ungewiss. Es war enorm wichtig, dass ich mich nicht übernehme. Dafür arbeiten wir mit Herzfrequenzmessungen, mit Ruhepulswerten und Schlafüberwachung. Es war aber eine Gratwanderung, die auch anders hätte herauskommen können. Und bei meiner Rückkehr auf den Schnee ging es nochmals von vorne los.
Wie meinen Sie das?
Plötzlich hatte ich im Trainingscamp in Zermatt beispielsweise Symptome einer Höhenkrankheit, obwohl wir schon fünf Tage sehr hoch oben waren. In diesen Momenten war es sehr wichtig, clever zu agieren und nichts mit der Brechstange zu erzwingen. Es gab zum Beispiel auch diesen Moment im Training in Nordamerika kurz vor Saisonstart. Da lag ich die ganze Nacht wach im Bett. Um 3 Uhr habe ich dem Trainer geschrieben, dass ich einen Tag auslassen werde.
Früher hätten Sie das nicht gemacht?
Ich hätte es mir nicht zugestanden. Heute bin ich an einem Punkt in meinem Leben, an dem ich mir eingestehen kann, so bringt das nichts. Ein Training zu erzwingen, macht es nur gefährlich. Momentan wäre es besonders fatal, wenn ich in den Netzen landen würde. Besonders mental wäre ein Sturz für mich derzeit extrem schwierig.
Wie gehen die Trainer mit Ihrer Situation um?
Extrem gut. Niemand sagt mir, wie viel ich machen muss. Gleichzeitig tut es mir gut, wenn mich die Trainer auch mal etwas pushen und ermutigen, dass ich noch einen Lauf mehr anhängen soll. Am Ende überlassen sie den Entscheid, ob ich es mache, aber immer mir.
Was fehlt noch für eine Topplatzierung?
Mir gelingt es noch nicht immer, im entscheidenden Moment einen oder zwei Gänge hochzuschalten. Aus Selbstschutz. Aber ich spüre, dass es besser wird. Ich lerne mit jedem Lauf und mit jedem Rennen mehr. Genau das ist es, an dem ich mich festhalte. Und auch wenn es mal einen totalen Abschiffer geben sollte, akzeptiere ich ihn. Das hätte ich früher auch nicht gekonnt. Heute schaue ich auf das Gesamtbild.
Haben Sie sich für diese Saison konkrete Ziele gesetzt?
Nein. Ich wäre zwar nicht erstaunt, wenn es mir sogar noch in dieser Saison auf das Podest reichen würde. Aber ich erwarte es nicht. Ich bin überzeugt, wenn ich von oben bis unten einen Lauf hinbekomme, dann bin ich immer noch der alte Niels, der wirklich geil Skifahren und richtig schnell sein kann. Den aber zu finden und am Tag X herauszuholen ist nicht ganz so simpel wie vorher. Die grossen Fragen, die mich derzeit beschäftigen, heissen darum: Wie komme ich da hin? Wie komme ich wieder in den perfekten Rennmodus? Wie komme ich wieder in diesen Flow-Zustand, den es braucht? Und für Antworten brauchte es nun Rennen, Rennen und noch mehr Rennen. (aargauerzeitung.ch)
