Eishockey-Trainer Jeff Tomlinson sieht fast nichts mehr.Bild: Jörg Parsick-Mathieu
Interview
«Papa, warum hast du so schlechte Augen?»: Jeff Tomlinson spricht über seine Sehkrankheit
Jeff Tomlinson sieht fast nichts mehr. Der Trainer, welcher den EHC Kloten fast blind zum Aufstieg coachte, erzählt, wie sein Leben in den letzten Jahren verlief, welche Tricks er im Alltag anwendet und wie seine Töchter damit umgehen.
Am Freitagmorgen schockte Jeff Tomlinson die Hockey-Welt. Der Aufstiegstrainer von Rapperswil-Jona (2018) und Kloten (2022) ist nahezu erblindet. Nun hat der Kanadier seine Sehkrankheit öffentlich gemacht. watson konnte mit dem 55-Jährigen bereits darüber sprechen.
Reaktionen nach dem Outing
«Ich habe heute viele Nachrichten bekommen, auch sehr nette und emotionale. Zudem erreichten mich viele Sprachnachrichten. Einige erzählten mir, dass sie es bereits ahnten, aber nicht genau wussten, wie schlimm es ist. Ich erhielt auch viele Glückwünsche zu meinem Outing.»
Gefühle nach dem Outing
«Ich wusste heute Morgen nicht, in welche Richtung es geht. Ich machte am Morgen meine normale Routine, trank einen Kaffee und ging spazieren, um auch darüber nachzudenken. Es ist ein sehr komisches Gefühl. Ich muss mich draussen nicht mehr verstecken. Ich kann einfach authentisch sein und auch sagen, wenn ich jemanden nicht erkenne und nicht genau sehe. Ich bin frei.»
Existenzängste nach dem Sehverlust
«Die Diagnose war eine Katastrophe. Ein solches Gefühl hatte ich so noch nie. Ich hatte grosse Existenzängste. Was soll ich jetzt machen, dachte ich mir, ich fühlte mich noch jung. Schwierig zu beschreiben, wie es ist mit diesen Gefühlen und Gedanken, das wünsche ich wirklich niemandem.»
Seit vier Jahren sieht Tomlinson fast nichts mehr.Bild: keystone
Seine Tricks im Alltag
«Es hilft, dass ich noch weiss, wie die Welt aussieht. Ich habe viele Tricks gelernt und auch vom Schweizer Blindeninstitut Hilfe erhalten. Zu Hause fühle ich mich wohl, ich weiss, wo sich alles befindet, und ich denke nicht immer darüber nach, dass ich eine Sehkrankheit habe. Langsam gewöhne ich mich daran. Der Kopf ist der grösste Unterschied, ich habe mehr Selbstvertrauen als früher, ich traue mich mittlerweile, alleine aus dem Haus zu gehen. Das Vertrauen kam Schritt für Schritt. Ich habe immer noch Beschwerden, wenn viele Leute um mich herum sind, es ist jeweils kein gutes Gefühl. Ich fühle mich eingeschränkt und habe immer noch Herausforderungen.»
«In der Stadt ist es für Sehbehinderte sehr freundlich. Die weissen Markierungen helfen enorm. Mit Licht fühle ich mich auch einiges wohler. Wenn es draussen bewölkt und grau ist, ist es für mich schlimmer als in der Nacht, weil dann auf den Strassen kein Licht brennt.»
Was sich seit der Diagnose verändert hat
«Früher konnte ich mental nicht damit umgehen, wenn ich auf einer Treppe stürzte oder in einen Pfosten lief. Ich rastete innerlich und teils auch äusserlich aus, wenn mir so etwas geschah. Mittlerweile kann ich auch mal darüber lachen, wenn mir ein Missgeschick geschieht.»
«Ich bin mittlerweile viel besser organisiert. Ich habe früher den Schlüssel oder das Handy öfters verlegt als jetzt, jetzt ist es immer am gleichen Ort. In Kloten habe ich es jeweils versucht, mit Humor zu nehmen, wenn ich beispielsweise in einen Pfosten gelaufen bin. ‹Der Pfosten kam unerwartet›, sagte ich dann zum Beispiel.»
Über die Anstellung bei Kloten trotz Sehschwäche
«Ich glaube, sie wussten nicht, wie schlimm es ist. ‹Ja, wir haben Ärzte, wir können dir helfen›, sagten sie mir. Wir brauchten zwei Assistenztrainer und holten auch noch einen Torhütertrainer. Niemand in der Swiss League hatte so einen grossen Staff.»
«Ich war schockiert und dachte, sie verstehen das nicht. Sie wollten, dass ich auf das Eis stehe und ein Training leite. Die Verantwortlichen sagten: ‹Das lief super, lass uns das machen.›»
«In dieser Situation brauchte ich das, ich brauchte die Aufgabe. Ich suchte einen Sinn im Leben. Ich wusste nicht, was einer macht, der nichts sieht. Meine Frau sagte, ich solle das machen. Es war viel Risiko für Kloten, man stelle sich vor, es wäre sportlich nicht gelaufen, und dann stellt sich heraus, dass sie einen blinden Trainer haben. Es war gut, dass sie nicht wussten, wie schlimm es ist. Niemand merkte, wie schlimm es wirklich ist.»
Obwohl Tomlinson kaum etwas sah, führte er Kloten zum Aufstieg.Bild: keystone
Eishockey im Stadion oder vor dem TV
«Der Vorteil auf dem TV ist, dass ich dem Kommentator zuhören und sehen kann, wie sich das Spiel bewegt. Ich gehe aber auch gerne ins Stadion, weil ich es dann fühlen kann. Es kitzelt mich wieder, wenn ich die Fans höre und die Emotionen fühle. Nur schon die Luft in der Eishalle hilft mir.»
«Während meiner Zeit in Kloten hatten wir einen grossen Fernseher auf der Bank, damit ich sehen konnte, was geschah und in wichtigen Momenten die Szene nochmals sah.»
Wie seine Kinder mit der Krankheit umgehen
«Sie kennen es nicht anders. Meiner älteren Tochter wird es immer bewusster. Früher schrie sie mich an: ‹Es ist vor deiner Nase, bist du blind oder was?› Sie versteht es und hilft mir. Auch beim Anziehen sagt sie mir, welche Farbe beispielsweise das T-Shirt hat. Ich lege zu Hause jeweils die Wäsche zusammen, aber ich kann nicht unterscheiden, wem was ist, auch dann unterstützt mich die ältere Tochter.»
«Sie helfen mir auch beim Mittagessen oder beim Aufräumen. Ich kann vor dem Schlafengehen keine Bücher lesen, aber dafür ihnen eine Geschichte erzählen oder einfach mit ihnen quatschen. Meine Kleine fragt mich jeweils: ‹Papa, warum hast du so schlechte Augen?›»
«Am schwierigsten ist es für meine Frau, die ganze Last liegt bei ihr. Sie hat erst gerade einen Schrank bestellt und sie musste ihn selbst aufbauen. Das Schlimmste für mich ist Weihnachten, wenn die Kinder dann Legos geschenkt bekommen. Ich kann ihnen nicht helfen, etwas aufzubauen.»
Von seiner Familie wird Tomlinson im Alltag stark unterstützt.Bild: Jörg Parsick-Mathieu
Sein Buch
Das Buch «Blindes Vertrauen» erscheint am 12. September im Handel. Tomlinson erzählt, wie er als blinder Trainer Erfolge feiern konnte und nur ein kleiner Kreis davon wusste. Die Geschichte wurde vom Tamedia-Journalisten Kristian Kapp niedergeschrieben. Die Buchpräsentation wird ebenfalls am nächsten Freitag sein und wird vor dem National-League-Spiel zwischen Kloten und Rapperswil-Jona stattfinden.
Das Buch «Blindes Vertrauen» erscheint am 12. September. Bild: Jörg Parsick-Mathieu
