Filip Ugrinic ist keiner, der das Rampenlicht sucht. Er zählt Interviewtermine nicht zu seinen Lieblingsdisziplinen. Als er erfährt, dass sich gleich drei Sportjournalisten um ein Gespräch mit ihm bemüht haben, sagt er bescheiden: «Es ist doch gar nicht viel passiert.»
Passiert ist jedoch einiges. Der 24-jährige Luzerner hat sich beim Schweizer Meister Young Boys zur unverzichtbaren Stammkraft entwickelt. Zudem feierte er vor einigen Tagen sein Debüt mit der Schweizer Nationalmannschaft. Am Dienstagabend wartet nun das Duell in der Champions League gegen Roter Stern Belgrad, in dem es ums europäische Überwintern geht. Ein spezielles Spiel für den schweizerisch-serbischen Doppelbürger. Während er neben dem Platz das Scheinwerferlicht meidet, blüht er bei Aufmerksamkeit auf dem Platz richtiggehend auf.
Sie waren erstmals mit der Nati dabei und kamen sowohl gegen den Kosovo als auch gegen Rumänien zu zwei Kurzeinsätzen. In Bukarest haben Sie mit der letzten Aktion des Spiels beinahe noch den Ausgleich erzielt. Wie war die Woche für Sie?
Filip Ugrinic: Es war speziell. Wie ein Debüt im Profifussball. Ich war zu Beginn der Woche schon nervös. Aber es macht Spass, mit diesen Spielern auf dem Platz zu stehen, diese Erfahrungen zu sammeln. Auf die Einwechslungen wurde ich nicht vorbereitet, das wurde kurzfristig entschieden. Da ist man in seinem Film und hat gar keine Zeit, um das Ganze zu realisieren oder gross nervös zu werden.
Wie haben Sie die beiden Gefühlswelten erlebt? Auf der einen Seite durften Sie sich über das Debüt freuen, auf der anderen lief es der Nati überhaupt nicht nach Wunsch.
Die Stimmung nach den Spielen war komisch. Auch wir waren nicht zufrieden. Das waren gemischte Gefühle. Klar hätte ich mir beim Debüt einen Sieg gewünscht. Aber es war dennoch ein spezieller Event.
Sie sind Doppelbürger und hätten auch für Serbien auflaufen können. Weshalb haben Sie sich für die Schweiz entschieden?
Es war kein Entscheid gegen Serbien. Als Doppelbürger bewegt man sich zwischen zwei Welten. Da stellt sich die Frage: Gibt es überhaupt einen richtigen Entscheid? Es war ein Entscheid für die Schweiz.
Was hat den Ausschlag gegeben?
Einerseits das Bauchgefühl. Andererseits waren es auch die Bemühungen des Schweizerischen Fussballverbands.
Aber auch der serbische Verband hat sich um Ihre Dienste bemüht.
Das war, als mein Entscheid schon feststand, für die Schweiz zu spielen.
Wie viel Schweiz und wie viel Serbien stecken in Ihnen?
Ich bin in der Schweiz aufgewachsen. Da ist natürlich einiges schweizerisch an mir. Vor allem die Pünktlichkeit und die Ordnung. Ich verliere nicht gerne und bin manchmal hitzig. Das sind wohl eher die serbischen Charakterzüge. Vor allem das Hitzige muss ich noch besser in den Griff kriegen. Ich musste zuletzt gegen Luzern eine Gelbsperre absitzen. Zwei von den vier gelben Karten waren aufgrund von Reklamationen.
Äussert sich das mit der Ordnung auch in der Kabine?
Da habe ich schon einen Tick. Auch zu Hause oder in meinem Auto muss alles schön sauber und ordentlich sein. Bei mir zu Hause waren bereits einige Spieler. Beispielsweise Loris Benito und Saidy Janko. Janko hat noch einige Male bei mir übernachtet, als er noch keine Wohnung hatte. Sie haben schon auch für Unordnung gesorgt. (Lacht.)
Welchen Bezug haben Sie zu Roter Stern Belgrad? Bestehen aus der Kindheit gewisse Sympathien?
Mein Götti hat mir als Kleinkind ein Trikot von Roter Stern geschenkt. Deswegen war ich auch ein wenig Fan. Im Stadion war ich aber vor dem Auftritt mit YB noch nie. Ich verfolge die serbische Liga, allerdings nicht sehr intensiv. Auch meine Familie ist eher auf der Seite von Roter Stern. Aber wenn wir gegen sie spielen, dann sind sie natürlich für uns.
Was kam auf Sie zu, als Sie Anfang Oktober mit YB in Belgrad auf Roter Stern trafen?
Ich musste 17 Tickets auftreiben. Acht sind aus der Schweiz angereist, die anderen neun waren Familienmitglieder vor Ort. 90 Prozent der Familie war neutral gekleidet. Zwei, drei sind mit einem rot-weissen Schal aufgetaucht.
Wie haben Sie die Partie wahrgenommen?
Ich hatte mich extrem darauf gefreut. Vor allem auf das Stadion und die Stimmung. Von meiner Verwandtschaft wurde viel über die tolle Stimmung berichtet. Die Nervosität war zu Beginn schon gross. Ansonsten bin ich das Spiel aber nicht anders angegangen als andere.
Sie haben kurz nach der Pause das zwischenzeitliche 1:1 erzielt. Die Freude darüber war zwar bei Ihnen auszumachen, aber der Jubel hielt sich in Grenzen. Täuscht der Eindruck?
Das haben Sie schon richtig bemerkt. Für mich stand schon vor der Partie fest, dass ich bei einem allfälligen Treffer nicht ausgelassen jubeln werde. Ich war ja mal Fan dieser Mannschaft und bin zudem noch Doppelbürger. Natürlich hat mich der Treffer gefreut, es war ein wichtiges Tor. Aber ich bin allgemein nicht für einen übermütigen Torjubel bekannt.
Wissen Sie, wer die bekannteste Person im Marakana-Stadion war?
Natürlich. (Es war Novak Djokovic; Anm. d. Red.) Kurz vor der zweiten Halbzeit sagte der Speaker: «Bitte begrüssen Sie den grössten Sportler aller Zeiten.» Ausser Darian (Males; Anm. d. Red.) und mir hat es zwar niemand unseres Teams verstanden. Danach hat sich die ganze Tribüne umgedreht. Leider habe ich ihn danach nicht getroffen.
Nun geht es am Dienstagabend im Wankdorf gegen Roter Stern ums europäische Überwintern.
Ein sehr wichtiges Spiel. Ein Direktduell, das wir unbedingt für uns entscheiden wollen. Das wird ein anderes Spiel als noch im Hinspiel. Auf dem Kunstrasen und mit den Fans im Rücken tritt kein Gegner gerne gegen uns an. Das hat sich auch in den bisherigen Spielen dieser Champions-League-Kampagne gezeigt. Wenn wir unsere Leistung auf den Platz bringen, bin ich überzeugt, dass wir gewinnen.
Wie haben Sie die bisherigen Heimspiele erlebt?
Wenn man die Fans hinter sich hat, dann passiert manchmal Unerklärliches. Man bekommt plötzlich einen zusätzlichen Schub, legt einen weiteren Sprint hin, agiert stärker in den Zweikämpfen. Das ist ein sehr spezielles Gefühl.
Wird das Rückspiel nun ähnlich speziell wie das Hinspiel?
Das Hinspiel war für mich vor allem speziell, weil mich viele meiner Verwandten zum ersten Mal live auf dem Platz gesehen haben. Das hat hauptsächlich die Nervosität ausgemacht. Es ist nach wie vor ein spezielles Ereignis. Aber mehr, weil es ums Überwintern im europäischen Wettbewerb geht.
Wie lautet Ihr Fazit nach vier Partien in der Gruppenphase. YB steht lediglich mit einem Punkt da. War nicht mehr zu erwarten?
Ich klammere mal die Partien gegen Manchester City aus. Dort erwartet niemand, dass man punktet. Dennoch haben wir unsere Haut im Wankdorf teuer verkauft. Gegen Leipzig wäre sicher mehr möglich gewesen. Da waren wir bei den Gegentreffern zu naiv. Gegen Roter Stern haben wir einen soliden Auftritt hingelegt, aber drei Minuten vor Schluss leider den Ausgleich kassiert. In diesen Spielen hat zu wenig für uns rausgeschaut. Die Leistungen wurden nicht immer belohnt. Aber wenn wir am Dienstag gewinnen, dann ist das egal.
Wie viele Tickets müssen Sie diesmal organisieren?
(Schmunzelt.) Auch viele, aber nicht mehr so viele wie in Belgrad.
Die Königsklasse ist für alle Spieler ein Schaufenster. Kennen Sie Ihren Marktwert?
Ich kenne ihn, weiss, dass er vier Millionen Euro beträgt. Aber er interessiert mich nicht. Ich versuche einfach, jedes Spiel zu geniessen. Fraglich ist auch, ob diese Summe bei einem Transfer tatsächlich generiert werden kann. Ich bin sicher keine vier Millionen wert. Kein Mensch ist so viel wert. Das Geschäft wird immer extremer.
Haben Sie das Gefühl, dass die Summen, die geboten werden, aus dem Ruder gelaufen sind?
Definitiv. Wenn man beispielsweise die schwindelerregenden Summen sieht, mit denen in Saudi-Arabien hantiert wird, dann stellt man sich schon Fragen. Natürlich, wir sorgen für Entertainment. Aber die Summen sind nicht normal.
Träumen Sie von einem Transfer ins Ausland?
Es ist sicher ein Ziel, dass ich einmal in einer Top-5-Liga auflaufe. Aber das beschäftigt mich nicht gross. Wenn ich die nächsten 10 Jahre bei YB verbringe, bin ich auch glücklich.
Welche Trainer haben Sie besonders geprägt?
Das waren einige. Gerardo Seoane als Jugendspieler. Markus Babbel und Patrick Rahmen haben mich dann an den Profifussball herangeführt. Auch wenn ich zu Thomas Häberli nicht das beste Verhältnis habe, hat er mir dennoch die Augen geöffnet. Ich musste unter ihm einen steinigen Weg bestreiten, der mich als Mensch weitergebracht hat. Und nicht zuletzt Fabio Celestini. Er hat mir nochmals die Chance gegeben, mich in Luzern zu beweisen. Dafür bin ich ihm sehr dankbar, und ich habe auch ein vertrauensvolles Verhältnis zu ihm. Der Kontakt zu ihm besteht nach wie vor.
Sie haben die Phase unter Thomas Häberli angesprochen. Er hat nicht mehr auf Sie gesetzt, weil Sie seiner Meinung nach zu viele Fehler im Angriffsspiel produzierten. Sie mussten zwischenzeitlich gar mit der U21 auflaufen.
Es war sicherlich eine harte Zeit, aber eine, in der ich die grösste persönliche Entwicklung gemacht habe. Sowohl mental als auch als Mensch.
Im Sommer 2019 wurden Sie dann zum niederländischen Verein FC Emmen ausgeliehen.
Der Start in den Niederlanden verlief vielversprechend. Danach wurde ich in die zweite Mannschaft degradiert. Da dachte ich schon: Okay, in welche Richtung geht es nun? Ich war nur ausgeliehen und hätte spielen müssen, um mich für eine Rückkehr nach Luzern zu empfehlen. Wenn Sie mir zu diesem Zeitpunkt mitgeteilt hätten, dass ich in ein paar Jahren in der Champions League für den besten Verein der Schweiz auflaufen und das Nati-Debüt geben darf, hätte ich es für unmöglich gehalten. Als ich vom FC Emmen zurückkam, hatte es in der Luzerner Mannschaft eigentlich keinen Platz für mich. Es war Fabio Celestini, der mir die Chance gab. Deswegen hatte ich danach auch das Gefühl, dass ich ihm etwas schulde. Ich wollte ihm das Vertrauen mit meinen Leistungen auf dem Platz zurückzahlen.
Ihre Karriere stand am Scheideweg.
Wäre ich nicht zum FCL zurückgekehrt, weiss ich nicht, wo ich gelandet wäre. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt keine Optionen in der Super League. Ich wäre vermutlich in der Challenge League gelandet. Ich weiss nicht, ob das damals einen positiven Verlauf genommen hätte.
Sie sind ziemlich muskulös. Stimmt es, dass Gerardo Seoane Ihnen im Kraftraum mal mitgeteilt hat, dass Sie das Training reduzieren sollen?
Das stimmt (lacht). Das war in der U21 bei Luzern. Ich hatte mir damals das Syndesmoseband angerissen. Deshalb war ich viel im Kraftraum. Auch dank meiner Gene bin ich rasch aufgegangen. Dann hat er mir gesagt: Nun ist gut für dich. Du musst mehr auf dem Platz arbeiten. Dafür bin ich ihm dankbar, denn es gab eine Zeit, in der ich träge wurde und die Spritzigkeit darunter litt. Nun ist das Krafttraining noch vom Brustbereich abwärts.
Verfolgen Sie noch Ihren Jugendklub, den FC Luzern?
Ja, aber nicht mehr so intensiv. Viele meiner ehemaligen Mitspieler sind nicht mehr dabei. Natürlich interessiert es mich, was nun mit dem Verein passiert. Rund um die Streitigkeiten und die Aktienmehrheiten habe ich mittlerweile die Übersicht verloren. Ich hoffe einfach, dass im Sinne des Vereins die richtige Entscheidung getroffen wird. (aargauerzeitung.ch)