Eine Woche vor dem Start in die neue Formel-1-Saison herrscht bei den Testfahrten in Bahrain grosse Aufregung im Fahrerlager. Der Grund: Mercedes hat die Konkurrenz mit einem im Vergleich zu den Barcelona-Tests Ende Februar total überarbeiteten Boliden geschockt, der keine Seitenkästen mehr zu haben scheint.
Stattdessen sind auf den Flanken lediglich Kühlerschlitze zu sehen, die Rückspiegel sind auf einem Zusatzflügel befestigt. Zwar hatte der Mercedes schon in Spanien schmale Seitenkästen, aber das Design war noch deutlich weniger radikal.
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Der neue W13 wirkt durch die komplett fehlenden Seitenkästen extrem schlank, was vor allem in Sachen Aerodynamik grosse Vorteile bringen soll. «Wir sind sehr stolz darauf, was wir mit diesem Rennwagen erreicht haben», erklärte Mercedes-Teamchef Toto Wolff am Donnerstag nach den ersten Testfahrten. «Nun müssen wir an der Feinabstimmung arbeiten, um das Potenzial des Autos Schritt für Schritt zu erschliessen. Wir experimentieren viel und gehen mit grosser Neugier heran.»
Ob das innovative Konzept auch wirklich funktioniert, ist allerdings noch unklar. «Es ist sehr heiss hier, die Pistenoberfläche ist wellig, der Wagen hüpft noch stark», gibt Wolff zu bedenken.
Es gehe zunächst vor allem um die Abstimmung, der rohe Speed komme später, so der Mercedes-Boss, der sich einen kleinen Seitenhieb auf die Konkurrenz nicht verkneifen konnte: «Ich finde es grossartig, wie verschieden die Autos aussehen. Dabei hatten viele Leute befürchtet, alle Rennwagen würden identisch aussehen.»
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Weniger Freude als Mercedes haben die restlichen Teams am neuen W13. Red Bull-Teamchef Christian Horner hinterfragte im Fahrerlager zunächst die Legalität des neuen Designs: «Das sind keine Spiegelhalterungen, sondern zwei Flügel», beschwerte sich der Brite bei «auto motor und sport». «Dazu haben sie noch vertikale Leitbleche obendrauf gebaut. Die haben nichts mit der Spiegelhalterung zu tun.» Mercedes sei «einen Schritt zu weit gegangen. Das entspricht nicht dem Geist des Reglements.»
Später ruderte Red Bull zurück und wies das Statement seines Teamchefs in mehreren Nachrichten an die Formel-1-Reporter weit von sich. Horner selbst betonte mit dunkler Sonnenbrille bei «Sky», dass ihn der neue Mercedes überhaupt nicht interessiere.
Etwas anders ging Ferrari mit dem Mercedes-Coup um: «Es gibt da mit der FIA festgelegte Abläufe. Ich würde mich sehr wundern, wenn Mercedes etwas Unerlaubtes auf die Bahn bringen würde», erklärte Teamchef Mattia Binotto und lobte: «Das ist ein fabelhaftes Konzept, ganz anders als alles, was wir bislang gesehen haben – und wir sind davon überrascht worden.»
Hinsichtlich der Legalität ergänzte der Ferrari-Boss allerdings: «Die FIA muss sicherstellen, dass es legal ist. Wir müssen uns anschauen, ob es dem Geist des Regelwerks entspricht. Sollte das nicht der Fall sein, müssen wir es für die Zukunft stoppen.» Gemäss «Sport1» hat Ferrari bereits eine Anfrage bei der FIA platziert. Wenn acht von zehn Teams zustimmen, ist eine kurzfristige Regeländerung durch die FIA seit Neuestem möglich.
W13’s been on a diet since Barcelona! We still have a lot of work to do but proud of how hard this team is pushing. 👊 pic.twitter.com/n1nrMFTrbp
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Mercedes-Teamchef Wolff hat damit gerechnet: «Wir haben diese Debatte erwartet. Ich wäre lieber beim alten Regelfindungsprozess geblieben. Aber die FIA und die Formel 1 werden das Thema sicher im Sinne des Sports handhaben. Ich denke, es wird okay sein.» Der Österreicher betonte zudem, dass die Entwicklungsrichtung im Vorfeld mit der FIA abgesprochen worden sein soll. «Man bindet die FIA in solchen Fällen in die Entwicklung ein.»
Doch was sagt eigentlich sagt das Reglement zu den Seitenkästen? Zunächst einmal nicht sonderlich viel. Denn das Einzige, was die Regeln vorschreiben, sind «Side Impact Structure» oder kurz SIS, also seitliche Crash-Strukturen. Dabei handelt es sich um zwei Streben, die wie nach aussen stehende Zapfen aussehen. Sie wurden einst eingeführt, um extremen Designs wie dem U-förmigen Seitenkasten des McLaren von 2011 zu begegnen.
Die Regelmacher hatten sich damals vorgestellt, dass der SIS-Zapfen in den Seitenkasten eingebaut wird. Das war bei den bisherigen Fahrzeugdesigns auch der Fall gewesen – einschliesslich des Mercedes bei den Testfahrten in Barcelona. Beim neuen Boliden hat der obere SIS-Zapfen aber keinen Kontakt mehr zum Seitenkasten und steht stattdessen innerhalb einer Art Tragfläche völlig allein im Wind. Möglich gemacht hat dies eine Regeländerung, wonach der obere SIS-Zapfen mindestens 50 Millimeter höher gesetzt werden muss als zuvor.
Mercedes hat damit wohl umgesetzt, was Formel-1-Sportchef Ross Brawn schon bei der Einführung der neuen Rennwagen-Generation befürchtet hatte – dass ein Team mit einer besonders einfallsreichen Lösung auftaucht, die auf der Rennstrecke den Ausschlag geben wird. Brawn hatte deshalb bereits im Vorfeld betont, dass allfällige Lücken im Regelwerk schnell wieder geschlossen würden.
Ex-GP-Pilot Martin Brundle ist sich dennoch sicher, dass Mercedes mit dem W13 den grossen Wurf gelandet hat: «Dieses Auto ist extrem windschlüpfig, so kannst du den Boden und den Heckflügel ideal anströmen. Klar, du hast immer noch die Vorderräder, die sich dem Fahrtwind entgegenstemmen. Aber Mercedes ist hier wirklich ein toller Wurf gelungen.» Das Wichtigste ist gemäss Brundle aber, dass niemand so etwas auf die Schnelle nachbauen könne.
Die kommenden Tage werden also spannend. Einerseits wird sich die Konkurrenz die Performance des neuen Mercedes mit Argusaugen anschauen. Andererseits wollen auch Red Bull und McLaren neue Teile an ihre Autos schrauben. Vielleicht haben auch sie noch eine innovative Lösung im Köcher.