So ganz wohl fühlten sich die Verantwortlichen der Los Angeles Clippers nicht, als sie Shai Gilgeous-Alexander per Trade nach Oklahoma City verschifften. Schliesslich hatte der Basketballer in seiner ersten Profi-Saison ansprechende Leistungen gezeigt, weshalb er bei den Clippers hohes Ansehen genoss. Dennoch waren sie gezwungen, «SGA» im Sommer 2019 abzugeben.
Denn nur wenn mit Paul George ein weiterer etablierter Star zu dem Team aus LA stiesse, würde auch der damals amtierende Champion und Finals-MVP Kawhi Leonard bei den Clippers unterschreiben. Also wechselte Gilgeous-Alexander vor seiner zweiten NBA-Saison zwangsweise zu den Thunder. Mit der Entwicklung, die der Kanadier seither hingelegt hat, haben wohl weder er noch die beteiligten Teams auch nur in ihren kühnsten Träumen gerechnet.
In der laufenden Saison erzielt der 25-Jährige zum zweiten Mal in Serie mehr als 30 Punkte pro Spiel – fast dreimal so viel wie in seiner Rookie-Saison. Dazu kommen ausserdem 6,4 Assists und 5,6 Rebounds. Er gilt neben Nikola Jokic als grösster Kandidat für die Auszeichnung als wertvollster Spieler, auch weil Joel Embiid die Mindestanzahl an nötigen Partien für den MVP-Award wahrscheinlich nicht erreichen wird.
Dass OKC in Gilgeous-Alexander womöglich einen kommenden Superstar bekommen hat, wurde schnell klar. Schon in seiner ersten Saison nach dem Trade, in dem die LA Clippers zusätzlich zu dem Point Guard auch noch fünf Erstrundenpicks aufgaben, brillierte er mit durchschnittlich 19 Zählern als bester Skorer der Thunder. Dabei profitierte er auch von Routinier Chris Paul. Der damals 34-Jährige war in seiner einzigen Saison in Oklahoma City ein wichtiger Mentor für «SGA».
Vor allem sein Passspiel verbesserte sich in der Saison mit Paul, der aufgrund seiner starken Übersicht den Spitznamen «Point God» trägt, deutlich. Ausserdem ermöglichte Pauls Präsenz dem angehenden Star, ohne grossen Druck zu spielen und erst in die Rolle des Anführers hineinzuwachsen. Als Paul Oklahoma im Jahr 2020 verliess, war Gilgeous-Alexander dann bereit, dessen Rolle zu übernehmen. Später bezeichnete Paul die Entwicklung seines einstigen Schützlings als «die beeindruckendste, die ich in der NBA gesehen habe».
Seitdem entwickelt sich dieser in jeder Saison weiter, wird immer besser und ergänzt sein Spiel durch neue Fähigkeiten. Dies liegt wohl auch an seinem näheren Umfeld. «Die Leute um mich herum lassen nicht zu, dass ich abhebe», sagte «SGA» vor einigen Jahren zu ESPN, «meine Mutter sagt mir jeden Tag, dass ich scheisse bin.» Mutter Charmaine Gilgeous stammt aus Antigua und Barbuda und war einst selbst Athletin und nahm 1992 an den Olympischen Spielen im 400-Meter-Lauf teil. Vaughn Alexander, Vater des heutigen NBA-Stars, war einst sein Juniorentrainer.
In Toronto geboren und unweit der knapp 3-Millionen-Stadt in Hamilton aufgewachsen, ist Shai Gilgeous-Alexander Kanadier durch und durch. «Das Land, aus dem ich komme, ist der Grund, weshalb ich der Spieler bin, der ich heute bin», sagt der Nationalspieler, der sein Heimatland an der WM im letzten Sommer zu Bronze geführt hat. Das Bruderduell mit den USA im Spiel um Platz 3 gewannen die Kanadier auch dank der 31 Zähler und 12 Assists von «SGA». In Südostasien bewies er damit, dass er ein Team als bester Spieler zum Erfolg führen kann.
In der Folge machte er auch in der NBA einen weiteren Schritt. Die ohnehin schon starke Punkteausbeute konnte er zwar nicht mehr steigern, doch feilte er unter anderem an der Effizienz und vor allem an seiner Defensivarbeit. Mit 2,2 Steals pro Partie ist er in der Kategorie der beste Spieler der NBA, und auch sonst wird er als Verteidiger immer besser. Mittlerweile ist gar davon die Rede, dass er am Ende der Saison in eines der beiden All-Defense-Teams gewählt werden könnte. Das würde heissen, dass er einer der vier defensiv-stärksten Guards der NBA wäre – und das bei seiner unheimlichen Produktion am offensiven Ende.
Dass er sich nicht ausschliesslich auf die Offensive, die in der NBA für deutlich mehr Aufmerksamkeit sorgt und auch hauptsächlich für die Höhe des künftigen Gehalts ausschlaggebend ist, konzentriert, passt zu Gilgeous-Alexander. Der 25-Jährige hat ein verhältnismässig altmodisches Spiel. Er hat nicht die Wurfstärke eines Steph Curry, nicht das spektakuläre Ballhandling eines Kyrie Irving und sorgt nicht für krachende Dunks wie einst Russell Westbrook.
Dafür hat er seine Stärken sowohl in der mittleren Distanz als auch am Rand der eingefärbten Zone unter dem Korb. Sein High-School-Trainer Zach Ferrell, der auch seinen Cousin Nickeil Alexander-Walker (Minnesota Timberwolves) trainierte, sagte über Gilgeous-Alexander: «Sein Spiel ist nicht spektakulär, sondern solid, methodisch und exzellent in den wichtigen Dingen.» Und so bringt er mittlerweile auch seinem NBA-Team Erfolg.
In dieser Saison wird Oklahoma City voraussichtlich erstmals seit vier Jahren und Chris Pauls Abgang die Playoffs erreichen. Derzeit stehen die Thunder mit 33 Siegen aus 48 Spielen auf Platz 2 der Western Conference. Dies liegt auch an den starken Mitspielern wie Rookie Chet Holmgren oder Jalen Williams, die mit 21 bzw. 22 Jahren ebenfalls zum jungen Kern der zweitjüngsten Mannschaft der NBA gehören. Aufgrund der vielen jungen Leistungsträger und der vielen Draft-Picks, welche General Manager Sam Presti für die nächsten Jahre akkumuliert hat, gilt Oklahoma City als eines der vielversprechendsten Teams für die nächsten Jahre.
Aber schon in dieser Saison hat OKC Aussenseiterchancen auf den Titel. So schreibt NBA-Experte Zach Lowe von ESPN, dass ihr Erfolgsfenster aufgrund der für ein solch junges Team untypischen Ruhe und Qualität auch in den entscheidenden Momenten bereits jetzt offen sei. Die Ironie des Schicksals will es, dass nun ausgerechnet die Los Angeles Clippers, Gilgeous-Alexanders erstes NBA-Team, einer der grössten Konkurrenten in der Western Conference sind.
Nachdem sich das Team um Kawhi Leonard und Paul George zu Beginn dieser Saison mit James Harden einen weiteren Star geangelt hat, scheinen die Titelchancen der Clippers so gut wie lange nicht. In den letzten beiden Saisons verpassten sie die Playoffs erst und schieden danach in der ersten Runde aus. Träfen Oklahoma City und die Kalifornier in den Playoffs tatsächlich aufeinander, würde sich nicht nur für Shai Gilgeous-Alexander ein Kreis schliessen.