Sagen wir mal, Sie wissen nicht, wer Boris Becker ist. Oder besser: Sie kennen nur seine Geschichte als Tennis-Star: Sechs Grand-Slam-Titel als Spieler und sechs als Trainer. Mit 17 bis heute der jüngste Wimbledon-Sieger der Geschichte.
Dann halten Sie ihn für einen wie … Roger Federer. Aber hallo, sass der Boris denn nicht vor noch nicht einmal zwei Jahren wegen finanziellen Unpässlichkeiten in London im Knast? Und dann die vielen Geschichten, auch Frauengeschichten, aus seinem Leben, das an einen Rockstar mahnt?
Das stimmt. Aber im offiziellen Gespräch beim 18. Alpensymposium zu Interlaken (sozusagen die kleine Schwester des WEF) ist Boris Becker geistreich, cool und schlagfertig, ja nahezu perfekt. Wie Roger Federer eben. Aber schon eine Spur kantiger und authentischer. Und wegen seines turbulenten Lebens halt auch ein wenig … interessanter.
Er sagt in einem Satz eine Erklärung über seine Gelassenheit: «Ich muss nicht aus Büchern, ich darf aus meinem Leben erzählen.» Das tut er dann fast ein wenig so, als erzähle er etwas über einen anderen Menschen. Wie ein Historiker, der über Winston Churchill referiert. Oder ähnlich. Als rede er über sich, wie er mal war. Wie es mal war. Aber wie er heute nicht mehr ist. Wie es heute nicht mehr ist.
Er sagt: «Ich bin ein Grenzgänger. Als Sportler und auch später. Im Guten wie im Schlechten. Dabei bin ich auch zu weit gegangen.» Das Problem sei eben, dass man als Grenzgänger nicht wisse, wo die Grenze sei, und deshalb darüber hinaus gehen müsse, um die Grenzen zu erkennen. «Jetzt kenne ich meine Grenzen besser.»
Stolz ist er auf seine Leistungen. Das lässt er mit einem Hauch von Ironie durchblicken. Recht hat er ja. Aber am meisten interessieren halt die Geschichten ohne Filzball und Schläger. Wie die über seinen Knastaufenthalt von etwas mehr als 130 Tagen in London. Da wird er zum Philosophen. Er erwähnt, dass es vom Center Court im Wimbledon, wo er einst ein König war, zum Gefängnis nur drei Kilometer Distanz sind. Aber dazwischen mehr als 20 Jahre. Kein Held in einer griechischen Sage ist höher gestiegen und tiefer gefallen. «Es hat keine Bonbons gegeben. Ich fand mich unter Mördern, Drogendealern und Kinderschändern wieder. Ich hatte nichts anzubieten als meine Persönlichkeit. Und die fanden mich ganz okay.» Nein, das sei nicht ironisch gemeint.
Rückblickend habe er durch diesen Gefängnisaufenthalt zu sich selbst zurückgefunden. Einer der Betreuer habe ihn im Gymnastik-Team arbeiten lassen («Er hat wohl gedacht, ich verstehe etwas vom Sport …»). Der habe den Gefangenen auch Philosophie-Unterricht gegeben. Er sei mit ihm ins Gespräch gekommen und bald habe man ihm aufgetragen, den Mitgefangenen unter anderem Philosophie näherzubringen. Das Thema: Stoizismus.
Die Enge in der Einzelzelle, die hygienischen Verhältnisse, der Lärm – das alles sei eigentlich nicht zum Aushalten gewesen. «Aber ich habe gelernt, wie anpassungsfähig ein Mensch sein und an was alles man sich gewöhnen kann.»
Nun ist Boris Becker wieder in die Tennis-Familie zurückgekehrt. Er coacht seit dem letzten Oktober das dänische Supertalent Holger Rune. Die Rückkehr ins Tennis habe ihm gutgetan. Niemand habe wissen wollen, was gewesen sei. «Alle haben sich einfach gefreut, dass ich wieder da bin. Es war wie ein Heimkommen.» Inzwischen sei es denkbar, dass er auch wieder für die britische BBC arbeiten werde. Die TV-Station, für die er 20 Jahre lang das Tennis begleitet und auch als TV-Analyst Kultstatus erarbeitet hat. «Verhandlungen laufen.»
Die Frage drängt sich auf: Ist der coole, der gelassene Boris Becker im öffentlichen Gespräch der echte, sozusagen der neue Boris Becker? Oder spielt er eine Rolle, die ihm smarte Berater – Medientraining und so – beigebracht haben?
Wie sich später beim persönlichen Gespräch im kleinen Kreis zeigen wird: Er ist noch cooler als beim offiziellen Auftritt. Freundlich, mit Wortwitz und viel Selbstironie und einem rauen, fast ein wenig hölzernen, unbeholfenen Charme, der ihn geradezu liebenswert macht. Dazu ein glänzender Unterhalter. Jetzt, wo nicht jedes Wort auf die Goldwaage gelegt wird und er weiss, dass nicht alles, was er sagt, auch gleich an die grosse Glocke gehängt wird.
Heute lebt er mit seiner Lebenspartnerin in Mailand. Warum gerade Mailand? Weil das seine Partnerin glücklich mache. Er habe kapiert: «Happy Wife, happy life.» Nein, nein, verheiratet sei er noch nicht. «Aber das kommt vielleicht noch.» Seine Partnerin komme aus Rom. «Ich habe sie den Wohnort wählen lassen.» Sie habe sich für Mailand entschieden. Da fühle auch er sich wohl. Zentral gelegen, mit dem Auto sei er in ein paar Stunden in Zürich oder München. Italienisch spreche er zwar nur wenig. «Aber unsere Familiensprache ist sowieso Englisch.» Auch mit den Kindern.
Da kann die Frage nicht ausbleiben, warum denn nicht Deutschland? Er wird ein wenig wortkarg. Wohlwollend ist die Erklärung so: Er sei in Deutschland nicht immer fair behandelt worden. Er sagt es ohne Groll. Es ist einfach eine Feststellung. Um dann ein paar Episoden aus der teutonischen Medienkultur zu erzählen.
Zusammenfassend lässt sich die ganze Sache so erklären: In den deutschen Schreibstuben sitzen Hexenmeister der Heldenverehrung und ebenso des Runterschreibens. Der «Heldenvernichtung». Aber eines haben sie immer noch nicht gelernt: Dass die Story der Wiederauferstehung eines gefallenen Helden eigentlich die beste ist. Und es hat einen Grund, warum Boris Becker ohne Groll über die heimischen Medienszene spricht: Er ist, was er heute ist, auch durch das, was geschrieben und gesendet wurde. Aber er ist eine der ganz wenigen Persönlichkeiten der Zeitgeschichte, die nicht mehr auf das angewiesen sind, was geschrieben und gesendet wird. Die nicht mehr durch die Medien «gemacht» werden. Die über dem Medien-Zirkus stehen. Auch das eine Definition des Status einer Legende.
Das Thema Roger Federer darf nicht fehlen. Ist er der beste aller Zeiten? Boris Becker, der Diplomat, sagt: «Unter Tenisspielern gehört es sich nicht, jemanden als den Besten zu bezeichnen. Auch in den 1970er- und 1980er-Jahren ist sehr gutes Tennis gespielt worden.» Dann lassen wir es bei einer anderen Einstufung bewenden: Boris Becker ist der eleganteste Spieler aller Zeiten. Das lässt er nicht gelten, überhört freundlich den leisen Spott in dieser Behauptung und sagt: «Ich war vieles. Aber sicher nicht ein eleganter Spieler.»
Im nächsten Jahr feiert er das 40-jährige Jubiläum seines ersten Wimbledon-Triumphes von 1985. Der 17. Juli 1985, der aus Boris Becker einen anderen Menschen gemacht und sein Leben für immer verändert hat. «Mein zweiter Geburtstag», wie er sagt. Aber im Mittelpunkt dieses neuen Buches wird nicht dieser märchenhafte sportliche Erfolg stehen.
Es werde ein Buch («sozusagen eine Chronologie») seines Gefängnisaufenthaltes in London. «Aber natürlich wird auch mein Sieg in Wimbledon erwähnt.» Geschrieben hat er es mit einem britischen Chronisten. Eine Pointe darf nicht fehlen: Für jeden Gefangenen in einem britischen Gefängnis bekommt die königliche Familie ein Pfund. Weil der Staat die Gefängnisse aus dem königlichen Besitz gemietet hat. Boris Becker ist wohl die erste Person der Geschichte, die bei Hofe empfangen worden ist und später der königlichen Familie Einkünfte aus einem Gefängnisaufenthalt beschert hat. «Da dürften Sie recht haben.»
Als Boris Becker schliesslich aufsteht und geht, fällt auf, dass er leicht hinkt. Sein rechtes Fussgelenk ist versteift. Spitzensport ist halt nicht nur gesund. Das Bild passt wunderbar: Ein Held mit Blessuren und Narben nach beispiellosen Höhen und Tiefen. Aber er ist wieder aufgestanden und geht aufrecht durch die Welt.
P.S. Boris Becker ist mit dem Zug von Mailand nach Interlaken gereist und er lobt die Pünktlichkeit unserer Eisenbahn, die er sich von Deutschland her nicht gewohnt sei. Er habe eine Mütze über den Kopf gezogen und Musik gehört. So habe ihn im Zug nur der Zöllner erkannt.