Die Erwartungen waren riesig. Übrig bleiben Enttäuschung und Frust. Der olympische Super-G ist schon ein paar Stunden vorbei, da teilt Marco Odermatt ein Bild in den Sozialen Medien. Es zeigt, wie er nach vorne gebeugt sein Gesicht in den Armen vergräbt. «Skirennen können hart sein» schreibt er dazu und stellt ein weinendes Emoji hinter den Satz.
Und man fragt sich: Bringt er dieses Bild bis am Sonntag aus dem Kopf?
Dann findet der olympische Riesenslalom statt. Und Odermatt hat die letzte Chance, die hohen Erwartungen – die er auch an sich selbst stellt – an diesen Olympischen Spielen doch zu erfüllen.
Vor dem Super-G war Odermatt einer der meistgenannten Favoriten. Lange ist er dann auch gut unterwegs und bei den Schnellsten dabei. Dann berührt er ein Tor, gerät in Rücklage und rutscht seitwärts am nächsten Tor vorbei.
Odermatt fährt fluchend ins Ziel, wirft seine Stöcke auf den Boden und tritt gegen einen Zaun. Dann vergräbt er sein Gesicht in seinen Armen. Dieses Bild bleibt. Aber auch das Gefühl des Scheiterns, das hemmend und beklemmend sein kann.
Odermatt hat Ähnliches schon einmal erlebt. Vor einem Jahr an der WM in Cortina d’Ampezzo. Damals war er im Riesenslalom einer der Favoriten und schied ebenfalls aus. «Das war der schwärzeste Tag in meiner Karriere», sagte er danach.
2018 wurde Odermatt fünffacher Juniorenweltmeister. Grossanlässe bei den Grossen bringen ihm bisher noch kein Glück.
Nach der Enttäuschung in Italien fing er sich allerdings schnell auf. Bei der Rückkehr in den Weltcup wurde er nur neun Tage nach dem Frusterlebnis schon wieder Zweiter und nochmals eine Woche später siegte er bereits wieder.
Zu Beginn dieser Saison sagte er in Sölden, gefragt, ob er manchmal noch zurückdenke an die Enttäuschung der WM:
In China ist es derzeit sehr kalt. Trotzdem gibt es gute Gründe, dass Odermatt die Niederlage bis Sonntag abgehakt haben wird.
In erster Linie seine mentale Stärke. Wer mit Menschen aus seinem Umfeld spricht, erhält als Erklärung, warum Odermatt so verblüfft, oft die Antwort, dass sein Selbstvertrauen den Unterschied mache. Dass sein Glaube an die eigenen Fähigkeiten nicht nur unerschütterlich sei, sondern auch der Grund, warum er Radien fahren könne wie sonst kein anderer.
Aber ist dieses Selbstvertrauen wirklich grenzenlos?
Nach dem Super-G sagte Odermatt im TV-Interview: «Ich kann mir nichts vorwerfen, ich habe voll riskiert und war dabei bis ins letzte Drittel. Trotzdem ist es sehr schade. Ein solcher Fehler passiert mir sonst nie.» War das ein Hauch von Zweifel oder doch eher Erstaunen, das schon bald wieder durch Vertrauen abgelöst wird?
Odermatt sagt, er freue sich auf einen freien Tag, an dem er ausschlafen wolle. Eine schlaflose Nacht mit negativen Gedanken in der Endlosschleife hat in seinen Plänen keinen Platz.
Trotzdem wird der Druck am Sonntag ultimativ sein. Im Riesenslalom hat er vier von fünf Rennen in dieser Saison gewonnen. Im einzigen Rennen ohne Sieg wurde er Zweiter. Gold im Olympiarennen zu erwarten, ist die logische Konsequenz.
Dass Odermatt selbst in Momenten, in denen der Druck turmhoch wird, bestehen kann, hat er im Januar in Adelboden bewiesen. Der Sieg im Riesenslalom am Chuenisbärgli war sein Bubentraum. Nicht etwa Olympiagold. In Adelboden siegte Odermatt.
Gibts es die Olympiamedaille als Dessert –oder beginnt das Grübeln erst recht? (aargauerzeitung.ch)