Kein einziges Stadion, keine Fussballtradition – und fast 50 Grad im Sommer. Unter diesen Prämissen präsentierte sich der Wüstenstaat Katar bei seiner Kandidatur zur WM 2022. Und bekam den Zuschlag trotz alledem. Wie konnte es so weit kommen?
Dieser Frage widmet sich Netflix in seiner am Mittwoch erschienen vierteiligen Dokuserie «FIFA uncovered». Es ist nicht die einzige Dokumentation, die im Vorfeld der WM ausgestrahlt wird. Auch das ZDF, Pro7, arte und das SRF haben recherchiert. Trotzdem hat Netflix mit «FIFA uncovered» wohl die gründlichste Arbeit erledigt. Die grosse Stärke der Mini-Serie: Sie beginnt von ganz vorn; als der Weltfussballverband noch ein «Club unter Freunden» war.
«FIFA uncovered» nimmt seine Lupe hervor – und legt sie nicht, wie die meisten Dokus, auf den Wüstenstaat Katar. Sie schwenkt um und richtet ihn in erster Linie auf Zürich, das Hauptquartier der FIFA. Denn: Ebenso wenig, wie man die heutige Rassismusdebatte versteht, ohne dass man die Geschichte des Kolonialismus betrachtet, wird man auch die Vergabe der WM an Katar nicht verstehen, ohne dass man die Geschichte der FIFA kennt. Und wer sich anfangs die Frage stellte, wie zur Hölle Katar zur Austragung dieser WM kam, wird am Ende feststellen: Nichts ergibt mehr Sinn, als das.
Was am meisten heraussticht – in acht Punkten und noch mehr Zitaten:
Die Dokumentation beginnt mit dem Aufzeigen, wie es der Weltfussballverband von einem armen, amateurhaften Zusammenschluss von sieben Fussballvereinen zu einem Verband brachte, der die weltgeschichtlich grössten Sportkorruptionsskandale produzieren sollte. Die ersten zwei Folgen sind aus diesem Grund auch die grosse Stärke von «FIFA uncovered».
Der grosse Bruch, so wird es dargestellt, kam 1974 mit der Ernennung des bekannten brasilianischen Sportfunktionärs Joao Havelange zum FIFA-Präsidenten. Havelange hatte zuvor ein Leben als vielfältiger Sportler geführt: Er war professioneller Schwimmer und Wasserballer, trat in beiden Sportarten bei Olympischen Spielen an. Sein Biograf sagt über ihn: «Er realisierte, dass sein Wissen über Sport in politische Macht umgemünzt werden konnte.»
Havelange verstand auch die wichtigste Regel – und das wohl grösste Defizit, wie sich herausstellen sollte – in der FIFA: ein Land, eine Stimme. Das heisst: Egal, wie gross ein Land ist oder wie viel Macht es sonst besitzt, jedes hat genau eine Stimme, wenn es um die Entscheide innerhalb der FIFA geht. «Wenn man die Wahl gewinnen will, muss man Geld für die Entwicklung des Fussballs in diesem Land zahlen», so der Biograf. Obgleich die «Entwicklung des Fussballs» am Ende wenig davon sehen sollte – Deals wie diese begannen unter Havelange, in der FIFA Einzug zu halten.
Kurz nach seiner Wahl zum FIFA-Präsidenten begann auch die Kommerzialisierung der FIFA. Havelanges Mann für das Marketing: Sepp Blatter. Der Walliser verstand es wohl als erster, Anlässe wie die Fussball-WM global zu vermarkten. Er schloss den ersten Sponsoring-Deal mit Coca-Cola ab.
Unter Blatter, der gut daran tat, seine Beziehungen zum FIFA-Boss zu festigen, sollten weitere wichtige Deals dazukommen. Der wohl grösste davon war derjenige mit Adidas. Die WM 1982 in Spanien wurde gänzlich vom Sportartikelhersteller vermarktet.
Ein nächster, für die FIFA essenzieller Deal, war derjenige mit der Vermarktungsagentur International Sport and Leisure (ISL), gegründet von Adi Dasslers Sohn, Horst Dassler. Mit diesem Deal begann der bis dahin wohl grösste Korruptionsfall im Sport: ISL kaufte sämtliche Marketingrechte der FIFA ab. Letztere schien wenig davon zu verstehen, also sagte man sich: Solange das Geld fliesst, darf ISL machen, was sie wollen. Und das Geld floss – vor allem in Havelanges Hände. ISL wurde zu einer Art Bank für die FIFA.
Sepp Blatter, dessen Ambitionen innerhalb der FIFA immer grösser wuchsen, erfuhr davon und, noch wichtiger, konnte die Geldflüsse belegen. Blatter bestach Havelange: Er, Blatter, würde nichts sagen. Dafür sollte Havelange nach der WM 1998 «in Würde» abtreten – und ihm das Feld überlassen.
Mit anderen Worten: Sepp Blatter, der jahrelange Präsident eines Vereins, der sich mit Bestechung und Korruption finanzierte, der niemals selbst verurteilt wurde und bis heute jede Schuld von sich weist, startete seine grosse FIFA-Karriere genau mit solchen Mitteln – mit Erpressung. Und einer gehörigen Portion Blendung. Blatter selbst sagte nämlich nach dem Abtreten von Havelange in aller Öffentlichkeit:
Was schon mit Hitler und den Olympischen Spielen 1936 begann, geschah bei der FIFA das erste Mal 1978: Sportswashing. Die WM wurde damals in Argentinien ausgetragen, einem Land, das geführt wurde von einer Militärjunta, die zwei Jahre zuvor die Macht erlangte. Und sich mit einem argentinischen Fussballmärchen, das mit dem Sieg der Heimmannschaft geschrieben wurde, reinwaschen konnte.
Was «FIFA uncovered» in Erinnerung ruft: Sportswashing wurde auch betrieben in Spanien 1982, einige Jahre nach der Diktatur von Franco. Oder in Russland 2018, als Gianni Infantino, der neue FIFA-Präsident nach Blatter, Putins Russland als «warmes, weltoffenes Land» anpries.
Es funktionierte aber auch umgekehrt: In den 90er-Jahren brüsteten sich FIFA Funktionäre mit Fotos mit Nelson Mandela. Insbesondere Blatter versprach, jetzt, da die Apartheid endlich besiegt wurde, die WM nach Südafrika zu bringen.
Als Zuschauerin zieht man das Fazit: Sport und Politik können in der heutigen Welt nicht getrennt werden, niemals. Nicht bei Olympischen Spielen, schon gar nicht beim Fussball. Und erst recht nicht, wenn ein korrupter Verein seine Finger im Spiel hat.
Der Fussballer David Beckham, der sich gemeinsam mit Prinz William für eine Vergabe der WM 2018 an England einsetzte, wollte damals dem Exekutivkomitee mit dieser Aussage wohl etwas schmeicheln:
Genau so lief es aber nicht. Die Doku zeigt nämlich auf: Die Weltmeisterschaften wurden nicht dem besten Ausrichter, sondern dem besten «Sponsor» gegeben: Wohl ab 1976 erhielt jeweils das Land die WM zugesprochen, welches die Funktionäre am besten bezahlte. Nutzniesser waren jegliche Funktionäre des Exekutivkomitees der FIFA, also alle, die ihre Stimme zu vergeben – oder eher zu verkaufen – hatten.
Der Autor Ken Bensinger sagt dazu: «Die FIFA ist mächtig, weil sie die WM verteilen kann. Und die WM ist eine der ganz wenigen Veranstaltungen, die in praktisch jedem Land übertragen wird. Sie ist deshalb der einzige Weg, wie die FIFA richtig gut Geld machen kann.» Im Geldpot sind seit der Kommerzialisierung also nicht nur die Geldflüsse durch die sich bewerbenden Länder, sondern auch die Rechte an Fernsehübertragungen und der Vermarktung.
«Auf dem Platz ist es leicht, den Fussball zu kontrollieren. Es gibt einen Schiedsrichter, die Spielzeit und Markierungen. Aber jenseits des Platzes gibt es keinen Schiedsrichter, keine Spielzeit und keine Markierungen.» Zwar benutzt Sepp Blatter, der in der Doku mehrfach selbst zu Wort kommt, ständig solche Analogien zum Fussball, wenn er über das System FIFA spricht. Andere zeichnen hingegen ein anderes Bild:
Dass der FIFA auch die Fussballer egal sind, zeigt die Doku am Beispiel von Spielern aus Trinidad und Tobago. Sie hatten zuvor das erste Mal eine Qualifikation überstanden und waren überglücklich, 2006 an die WM nach Deutschland zu fahren. Im Wissen, dass das dem Kleinstaat vergleichsweise viel Geld einbringen würde, fragten sie ihren Funktionär, Jack Warner, wie das Geld denn aufgeteilt würde.
Dieser versprach den Spielern: fifty-fifty. Nachdem sie über mehrere Jahre kaum etwas vom Geld gesehen hatten, einigten sie sich auf einen Vergleich. Die Millionen hätte aber nie jemand gesehen, sagt ein damaliger Spieler in die Kamera.
Der Aufhänger der Doku ist die berühmte Festnahme von 14 FIFA-Funktionären im Mai 2015 in Zürich. In der dritten Folge wird ausführlich gezeigt, wie es dazu kommen konnte. Und wie überrascht die meisten waren, als es geschah.
Vorausgegangen war ein Machtkampf zwischen zwei gewichtigen Funktionären: dem US-Amerikaner Jack Blazer, Generalsekretär der CONCACAF (Nord- und Zentralamerikanische und Karibische Fußballkonföderation) und Jack Warner aus Trinidad und Tobago, FIFA-Vize-Präsident und CONCACAF-Präsident. Beide liessen sich über Jahre hinweg bestechen und taten das auch selbst.
Warner fiel Blazer dann allerdings in den Rücken: Er half Vertretern aus Katar, die (vielen) Funktionäre aus der Karibik zu bestechen, damit sie für Katar – und nicht die USA – stimmen würden. Warner begann aus Rache, Blazers korruptes Verhalten (dem er selbst allerdings in keinerlei Hinsicht nachstand), publik zu machen.
Beide wurden später von der US-Justiz angeklagt. Blazer (der, wie sich herausstellen sollte, 15 Jahre lang keine Steuern gezahlt hatte) starb allerdings vor dem Urteil 2017 und Warner wird seit Jahren von der US-Justiz gesucht. Beiden widmet die Dokumentation grosse Teile seiner Zeit, wohl um die Spitze der Unverfrorenheit in der FIFA darzustellen.
Das treffendste aller Zitate bleibt im Film deshalb leider unerwähnt. Es gebührt dem US-Senator Richard Blumenthal, der nach der Verhaftung der FIFA-Funktionäre die FIFA mit der organisierten Mafia verglich und dabei anfügte:
Infantino, seit 2016 neuer FIFA-Präsident, sei bei seiner Wahl zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen – mit den richtigen Freunden, sagt eine Journalistin in der Doku. Vielmehr erfährt man über Infantino, der keine zehn Kilometer von Blatter entfernt aufgewachsen ist, nicht. So erhält beispielsweise der Fakt, dass der FIFA-Boss heute in Katar wohnt, keine Erwähnung.
Ein früherer Berater von Sepp Blatter meint nur: «So wie die Welt heute strukturiert ist, kann die FIFA der Korruption nicht entkommen.»
Die Doku «FIFA uncovered» besticht mit ihren Protagonisten: Von Journalistinnen, über ehemalige Berater und Funktionäre, Whistleblower, bis hin zu Sepp Blatter und Gianni Infantino selbst, äussern sich die wichtigsten Involvierten direkt vor der Kamera. Alle anderen sind entweder tot oder werden noch von den amerikanischen Behörden gesucht.
Vor dem Hintergrund der Machenschaften der FIFA, von denen man während der vier Stunden erfährt, gibt Blatter selbst, der im Übrigen nie angeklagt wurde, bei seinen Interviews ein skurriles Bild ab. Bis heute bestreitet er im Grunde genommen, Teil der Korruption gewesen zu sein.
„Ich kann gar nicht so viel essen wie ich kotzen will.“