Das Internationale Olympische Komitee offeriert der Schweiz die Austragung der Winterspiele 2030. Wer eignet sich besser, um über die Chancen und Tücken zu reden, als «Mister Olympia» Adolf Ogi? Er war schliesslich die Galionsfigur der aussichtsreichsten Schweizer Olympia-Kandidatur der letzten Jahre: «Sion 2006».
Als wir uns im Restaurant Löwen in Fraubrunnen im Kanton Bern an den runden Stammtisch setzen, erzählt Ogi: «Dieses Haus hat mal der Familie meiner Frau gehört. Als es darum ging, wer den Betrieb übernehmen soll, sagte mir meine Schwiegermutter: Du kannst vielleicht Bundesrat werden, aber nicht diesen Betrieb führen.»
Adolf Ogi, Swiss Olympic hat entschieden, mit dem IOC in einen Dialog zu treten betreffend Austragung von Olympischen Winterspielen in den nächsten Jahren. Eine gute Idee?
Adolf Ogi: Ja, klar. Denn es gibt kein anderes Land, das wie wir alle Infrastrukturen hat. Bobbahn in St. Moritz, Sprungschanze in Engelberg und Kandersteg, für die Langläufer haben wir das Goms und Davos. Biathlon in Lenzerheide, Snowboard in Flims/Laax. Bei den Alpinen haben wir zahlreiche Weltcup-Rennen und wir haben die entsprechenden Stadien. Wir könnten morgen schon Olympische Winterspiele organisieren. Aber die Voraussetzung ist: Es muss eine Schweizer Kandidatur sein.
Wie beurteilen Sie das Vorgehen von Swiss Olympic?
Es ist geschickt, wie man das selbst in die Hand nimmt, damit kein Wettbewerb entsteht zwischen Graubünden, Wallis, Berner Oberland oder einer Kandidatur über die Grenzen hinaus. Denn dafür fehlt schlichtweg die Zeit. Vielleicht ist 2030 sowieso zu ambitioniert. Denn bis dahin haben wir drei Winter-Weltmeisterschaften und die Fussball-EM der Frauen.
Was schwebt Ihnen vor?
Zu bedenken ist, ob wir unsere Bereitschaft für 2034 signalisieren und die Spiele 2030 in Salt Lake City stattfinden sollen. Auch das ist zwar eine grosse Herausforderung. Aber das macht es doch reizvoll. Wir müssen uns in der Schweiz wieder Herausforderungen stellen. Mein Feuer für die Jugend ist nicht erloschen.
Aber warum sollen wir Olympische Spiele austragen?
Wir sind ein Wintersportland. Wir leben auch vom Wintertourismus. Wir müssen uns der Welt präsentieren. Wenn das IOC auf uns zukommt, bedeutetet das eine Anerkennung für alles, was die Schweiz für die olympische Bewegung bisher geleistet hat.
Nämlich?
1928, als nach dem Ersten Weltkrieg niemand die Olympischen Winterspiele organisieren wollte, als die olympische Bewegung am Ende schien, da kam die Schweiz, da kam St. Moritz. Genau das gleiche 1948 nach dem Zweiten Weltkrieg, als die olympische Bewegung wieder in Schwierigkeiten war. Da rettete die Schweiz zum zweiten Mal die olympische Idee. Jetzt muss ich noch etwas loswerden, was ganz wichtig ist.
Bitte.
Wir haben mit Kandidaturen einige Male auf den Grind bekommen. Das IOC hat seinen Sitz in der Schweiz, es ist uns einiges schuldig, insbesondere der frühere Präsident, Juan Antonio Samaranch. Immer, wenn es irgendein IOC-Problem gab, zum Beispiel Visa oder Steuern, kam er auf den Bundesrat zu und wir haben immer Lösungen gesucht.
Sie haben es angesprochen, Sie haben einige Male auch persönlich «aufs Dach» bekommen.
Ich bin nicht ins IOC gewählt worden. Wir haben die Spiele 2006 in Sion nicht erhalten, obwohl wir eine perfekte Kandidatur präsentieren konnten. Und jetzt ist das IOC in einer ganz schwierigen Situation. Es besteht die Gefahr, dass sich die olympische Bewegung spaltet, weil man Athleten und Athletinnen aus Russland und Weissrussland wieder zulassen will. Das kann dazu führen, dass einzelne Verbände die Spiele boykottieren werden. Deshalb bräuchte es einen Anker wie die Schweiz, der zur Beruhigung beiträgt und dem IOC wieder Anerkennung zurückgibt. Denn die Idee, der olympische Gedanke, die Weltjugend im Sport zusammenzuführen, das darf man nicht sterben lassen.
Wie kommentieren Sie den Entscheid des IOC, Russen und Russinnen wieder zuzulassen?
Das ist ein grosser Fehler, das geht doch nicht. Das IOC sollte aufhören mit diesem gefährlichen Spiel.
Für wie realistisch halten sie es, dass tatsächlich einzelne Nationen die Spiele boykottieren werden, wenn Russen und Weissrussinnen zugelassen werden?
Die nächsten Sommerspiele finden schon 2024 statt. Die Drohung steht im Raum und sie ist ernst zu nehmen. Schauen Sie, wer der Resolution der UNO gegen Russland zugestimmt hat. Das sind 90 Prozent der Mitgliedsstaaten. Wenn die Deutschen nicht mehr zu den Spielen kommen, die sehr engagiert sind im Ukraine-Krieg, oder die Skandinavier, die eine Mini-Nato bilden gegen die Russen - das könnte das Ende der Olympischen Spiele bedeuten.
Sie reden von einer Schweizer Kandidatur …
Absolut, aber nur für den Winter.
Früher hat man Kandidaturen kantonal abgestützt, weil man Angst hatte, dass eine Schweizer Kandidatur in allen Kantonen durchs Volk muss, was es viel komplizierter macht.
Das IOC und wir Schweizer müssen mutiger werden. Wir müssen Anpassungen vornehmen und zeitgemäss denken. Sicher müsste man die eine oder andere Infrastruktur verbessern. Olympia in der Schweiz wäre im Interesse unseres Landes und des IOC, also eine klassische Win-win-Situation.
Und wie bringen Sie das beim Volk durch?
Es braucht eine Lokomotive, eine Person, die überzeugen kann. Das beginnt mit diesem Interview, aber ich bin natürlich nicht diese Person. Jetzt muss man die ganzen Vorteile auflisten, die Olympische Winterspiele mit sich bringen. Der Angstmacherei ein Ende setzen. Es werden keine gigantischen Spiele wie in Sotschi oder Peking. Das IOC fragt uns, die Schweiz. Es ist offensichtlich bereit, unsere Bedingungen zu akzeptieren. Es ist eine Chance, wenn wir nicht von der Bürokratie des IOC mit Vorschriften drangsaliert werden. Und IOC-Direktor Duby sagte, dass das IOC mitfinanzieren würde.
Ist die Schweizer Bürokratie nicht fast die grössere Gefahr?
Wir könnten entschlacken. Natürlich braucht es eine korrekte, saubere Abklärung, das wird auch passieren. Aber diese Gelegenheit kommt nicht so schnell wieder. Wir sind in der Vergangenheit auch daran gescheitert, dass wir nicht mal einen ganzen Kanton mit ins Olympia-Boot holen konnten. Graubünden beispielsweise. Da wurden Flims/Laax und Chur aussen vor gelassen. Solche Fehler sollten wir nicht mehr machen. Wir haben alles und könnten das perfekt organisieren, aber nur als Schweiz.
Wer kann diese Lokomotive sein?
Das muss Swiss Olympic bestimmen.
Was muss diese Person mitbringen?
Das muss jemand sein, der überzeugen kann, der sich hinstellt vor den Grünen und Linken, den Rechten, bei den Gegnern. Eine Person, die mit Überzeugung und Kraft einnehmen kann, mit guten Argumenten, mit Herz und Glaubwürdigkeit, dass man es schwer hat, Nein zu sagen.
Gibt es diese Figuren? Aus dem Sport, aus der Politik?
Ja, die gibt es.
Wer?
Roger Federer, nach der Karriere sähe ich Marco Odermatt. Es gibt auch ausserhalb des Sports Leute, die diese Kraft und Überzeugung mitbringen. Doris Leuthard wäre eine Möglichkeit, aber auch der früheren Nationalratspräsidentin Pascale Bruderer oder Nationalrat Matthias Aebischer würde ich diese Rolle zutrauen.
Welchen Beitrag könnten Sie sich vorstellen zu leisten?
Schauen Sie, ich bin 80-jährig. Ich habe mit «Sion 2006» auf den Grind bekommen. Weshalb? Weil ausgerechnet die Schweizer IOC-Mitglieder uns zu wenig unterstützt haben. Und Sepp Blatter flog vor dem Entscheid 1999 in Seoul lieber nach New York zur Fussball-WM der Frauen und um Frau Clinton zu treffen. Dabei durfte ich als Bundesrat Blatter als Fifa-Präsidenten lancieren.
Wie ging es weiter?
Lennart Johansson (damals Uefa-Präsident) und Juan Antonio Samaranch (damals IOC-Präsident) wollten Blatter als Fifa-Präsidenten verhindern. Aber er wurde gewählt. Und das ist vielleicht der Grund, weshalb ich nicht ins IOC gewählt worden bin. Samaranch war sauer auf mich. Am Abend vor der Entscheidung in Seoul bin ich zu Samaranch, habe ihn an den Schultern gepackt und ihm gesagt: So, jetzt gib uns diese Spiele! Denn er hat es mir davor unter vier Augen versprochen. Aber eben: Es ging schief mit «Sion 2006».
Hat Sepp Blatter Sie im Regen stehen gelassen?
Damals sassen im IOC einige Personen, die mit Juventus Turin eng in Verbindung standen. Das ist eine andere Hausnummer als der FC Sion. Es gab damals im IOC viele Fussballfreunde. Wenn Blatter mit diesen das Gespräch gesucht hätte, am Abend vor den Wahlen für uns geweibelt hätte, statt nach New York zu fliegen, hätten vielleicht wir statt Turin diese Spiele bekommen.
Sie wurden dann auch nicht ins IOC-Exekutivkomitee gewählt.
Richtig, das war aber nach dem Nein zu Sion. Denis Oswald hat mich unterstützt, aber die anderen Schweizer waren gegen mich. Gian-Franco Kasper (FIS) glaubte, ich würde gleich ins Präsidium oder in den Vorstand wollen. Ein anderer sagte, es sässen schon zu viele Schweizer im IOC. Das waren alles Giftpfeile. Und der Zahnarzt (René Fasel) wollte mich auch nicht … Heute ein Putin-Freund.
Er hat jetzt den russischen Pass …
Das ist unglaublich, gerade in der heutigen Zeit. Wo sind wir eigentlich? Wo sind unsere Werte geblieben? Gopfriedstutz, entschuldigen Sie den Ausdruck. Diese Putin-Versteher, diese Putin-Unterstützer. Und das in der heutigen Zeit. Wer hat denn diesen Krieg angefangen? Gopfriedstutz, ein letztes Mal (klopft mehrfach vehement auf den Tisch).
Wie sehen Sie die Rolle von IOC-Präsident Thomas Bach?
Thomas Bach muss aufpassen, dass es keine Spaltung gibt in der olympischen Bewegung - es ist jetzt fünf vor zwölf! Wenn jene, die die Ukraine mit Kriegsmaterial unterstützen, ihre Position halten, kommen sie doch nicht an die Olympischen Spiele. Dann würden die Olympischen Spiele degradiert und die olympische Bewegung geht mit Bach bachab.
Sehen Sie einen Ausweg?
Ja. Und ich denke, Thomas Bach sieht diesen auch. Er wird in der Russland-Frage einen Rückzieher machen für die Spiele in Paris 2024.
Bach stellt sich auf den Standpunkt, Sport und Politik seien zu trennen, schüttelt aber Wladimir Putin oder Xi Jinping die Hand.
Sport ist Politik, Politik ist Sport. Das kann man nicht mehr voneinander trennen. Wer entscheidet am Schluss, ob wir Olympische Spiele in der Schweiz wollen? Die Politik. Und woher kommen die überzeugenden Argumente für Olympische Spiele in der Schweiz? Aus dem Sport!
Das war schon immer so, oder?
Es ist jetzt noch extremer. Wir sind in einer Phase, in der es nicht mehr ohne Politik geht. Banken müssen gerettet werden durch die Politik, Olympische Spiele müssen gerettet werden durch die Politik, die Wirtschaft muss gerettet werden durch die Politik. Das ist zugespitzt formuliert, aber es ist doch augenscheinlich, dass es derzeit so ist.
Die Schweiz hält an der Neutralität fest und liefert keine Waffen in die Ukraine. Ist das der richtige Weg?
Was für ein Interview machen wir jetzt?
Sport ist Politik und Politik ist Sport …
… stimmt, da haben Sie recht. Ich sage nur Folgendes dazu, danach soll es wieder um den Sport gehen. Wenn wir Kriegsmaterial verkaufen, das in der Schweiz von Schweizern hergestellt worden und die Lieferung bezahlt ist, habe ich Mühe, dem Käufer zu verbieten, dass er dieses Material nicht weitergeben darf - egal an wen. Das kann ich nicht nachvollziehen. Politisieren heisst mutig sein. Das fehlt mir etwas.
Was darunter leidet, sind der Ruf und das Image der Schweiz.
Das Problem ist, dass wir nicht mehr verstanden werden, vor allem von unseren Nachbarn und Europa.
Und Olympische Spiele können das ändern?
Olympische Spiele sind immer auch ein fantastisches Marketing- und Imagewerkzeug. Wir sind ein Touristenland. Mit Olympia können wir uns der Welt präsentieren, wie das sonst kaum möglich ist. Nirgends sonst haben wir diese Bühne, um unsere Kultur, unser funktionierendes öffentliches Leben, unsere Stabilität und unsere berechenbare Politik zu zeigen. Wir leben in einem unglaublich tollen Land.
Wir können einen Altbundesrat anrufen. Der nimmt den Anruf entgegen und ist sogar bereit, sich mit uns an einen Stammtisch zu setzen. Wo gibt es das sonst?
Solche Dinge müssen wir unbedingt bewahren, dafür werden wir ja überall beneidet. Ich werde auch nicht von Bodyguards begleitet. Ich lese ständig, wir hätten Probleme mit der Jugend. Also führen wir doch auch für sie Olympia durch. Für die Kinder, die jetzt auf den Ski stehen. Wir müssen wieder lernen, zu kämpfen. Das lernen wir im Sport. Denn bisher habe ich keine bessere Lebensschule für Jugendliche kennengelernt. Olympia in der Schweiz ist ein Ziel, eine Herausforderung, eine Chance für die heutigen 10- bis 20-Jährigen.
Aber ein Problem bleibt, wie die Volksabstimmungen in den letzten Jahren gezeigt haben: Wie überzeugt man die Menschen?
Erstens: Man muss alle an Bord holen, die Kantone, die Regionen, die Gemeinden, die Partien und die Wirtschaft. Zweitens: Wir wurden gefragt. Diese Ausgangslage ist ganz anders als früher. Jetzt müssen wir aber standhaft bleiben und sagen: Ja, wir machen das, aber nach unseren Spielregeln. Wir akzeptieren es nicht, wenn ihr vom IOC uns Auflagen macht, die uns X Millionen Franken kosten. Dann sagen wir: Nein, das akzeptieren wir nicht. Deshalb könnte das für beide Seiten eine gute Sache sein. Fürs IOC, weil es mit smarten Spielen sein Image aufpolieren kann. Für uns, weil man die Infrastruktur verbessern kann, wo das nötig ist.
Wäre es für Sie eine grosse Erfüllung, wenn Sie noch Olympische Spiele in der Schweiz erleben könnten?
2030 könnte ich wahrscheinlich noch erleben, wenn es mir weiterhin gut geht. Wenn Olympia aber erst 2034 in die Schweiz kommt, müsste mir der Liebe Gott schon wohlgesinnt sein. Ich weiss, was es heisst, zu leiden. Ich wurde vor einem Monat am Rücken operiert - Verengung des Spinalkanals und ein Bandscheibenvorfall. Dennoch stand ich diesen Winter in Kandersteg 20 Mal auf den Ski, bevor ich ins Spital ging. Ich konnte zwar fast nicht mehr gehen, aber ich konnte noch Ski fahren - mit Erlaubnis des Arztes natürlich. Nach vorne geneigt, wie Marco Odermatt. Dem habe ich übrigens einen Brief geschrieben. Und ihm für seine Leistung, vor allem auch für sein Menschsein gratuliert.
Und Odermatt hat ihnen mit einem Brief geantwortet?
Ja, er hat dies gemacht, obwohl er viel mehr Post zu erledigen hat als der alt Bundesrat Ogi.
Und wie waren die Schneeverhältnisse?
Bis Anfang Januar war es nicht gut, da hatte es wenig Schnee. Wenn es besser gewesen wäre, wäre ich nicht 20, sondern 30 Mal auf den Ski gestanden.
Bereitet Ihnen der Klimawandel Sorgen?
Natürlich macht mir das Sorgen. Deshalb, und auch das wäre eine Botschaft, sollten wir uns einen Namen machen als Veranstalter der nachhaltigsten Spiele. Wir können das.
Mit solchen Personen wäre die SVP meine Partei...wäre(...)