Heute zündet die SVP den nationalen Wahlkampf mit einem vaterländischen Hochamt im Zürcher Hockey-Tempel. Und morgen wird in Interlaken mit dem Unspunnen Schwinget im Sägemehl das vaterländische Woodstock gefeiert. Der Zusammenhang zwischen diesen beiden Veranstaltungen mag boshaft sein, ist aber gewollt. Wir erkennen so historische Wahrheiten und verstehen unsere vaterländische DNA ein wenig besser.
Unspunnen ist so hochpolitisch wie die SVP-Show in der Swiss Life Arena. Die Gründer von Unspunnen waren in der gleichen Mission unterwegs wie die Veranstalter des SVP-Wahlspektakels: Rettet das Vaterland! Bewahrt uns vor fremden Vögten und «Fötzeln»! Gäbe es Unspunnen nicht, so würde das Fest von der SVP erfunden.
Die Französische Revolution hat am Ende des 18. Jahrhunderts die bestehende Ordnung in Europa gestürzt und auch die Menschen in der Schweiz tief verunsichert. Zeiten des Umbruches, vergleichbar mit der Globalisierung 200 Jahre später.
Bern, einer der reichsten und mächtigsten Stadtstaaten Europas, wird 1798 von den Franzosen militärisch in die Knie gezwungen. Als der Staatsschatz auf einem Wagen aus der Stadt hinausgeführt wird, brechen auf der Nydeggbrücke die Achsen, so schwer ist die Last. Bis heute hat es die Schweiz unterlassen, in Paris die Rückgabe zu verlangen. Auch die SVP ist in der Sache nicht rührig.
Der Untergang des alten Bern, die Besetzung einer Stadt, die seit ihrer Gründung (1191) nie erobert worden war, hat eine traumatische Wirkung auf den Zeitgenossen weit übers Bernbiet hinaus. Unser Land ächzt unter französischer Fremdherrschaft. Schweizer Söldner verbluten auf den Schlachtfeldern Europas. Wohin die Reise für die Schweiz gehen wird, ob sie überhaupt ihren Zusammenhalt, ihre Unabhängigkeit und ihre kulturelle Identität in einer aus den Fugen geratenen Welt zu wahren vermag, ist keineswegs klar. Tief sind die Gräben zwischen Stadt und Land, zwischen jenen, die bewahren, und jenen, die alles umstürzen möchten. Parallelen zur Gegenwart sind nicht zu übersehen.
Was zu Beginn des 19. Jahrhunderts fehlt, ist ein «Erweckungserlebnis», das die patriotischen Strömungen bündelt, das Nationalbewusstsein und die Idee eines Vaterlandes stärkt, Stadt und Land zusammenführt und Brücken zwischen den verfeindeten politischen Lagern schlägt. Die Unspunnen-Idee kommt 1805 zum richtigen Zeitpunkt und sie ist heute aktueller denn je. Vier einflussreiche Männer aus der Berner Oberschicht, die heute alle bei der SVP Meinungsmacher wären, heben das Fest aus der Taufe.
Nach Jahren des Diktates und der Demütigung durch die Franzosen soll dem Schweizervolk 1805 wieder einmal Gelegenheit zu echter Festfreude geboten werden, sollen schweizerische Kampfspiele und Lieder das Selbstvertrauen und die Vaterlandsliebe stärken und unsere alte Hirtenkultur vor Vergessen und Untergang bewahren.
Die Aufklärung im 18. Jahrhundert hat bereits das Interesse an der Natur, den Alpen und an der Kultur der vermeintlich freien Hirten bei Wissenschaft, Literatur und Philosophie geweckt. Unter anderem beim berühmten Genfer Philosophen Jean-Jacques Rousseau («der edle Wilde») und beim Berner Universalgelehrten Albrecht von Haller. Und in Murten lebt zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein Knabe, der diese Kultur zu Weltliteratur verarbeiten wird: Jeremias Gotthelf.
Die vier «Unspunnen-Erfinder» ahnen kaum, dass ihr Folklore-Festival mit dem so urtümlich klingenden Namen einer verlassenen Burgruine bei Interlaken auch 200 Jahre später die Massen faszinieren wird.
Das erste, zweitägige Unspunnen-Fest von 1805 wird für das helvetische Brauchtum sozusagen das, was die drei Tage von Woodstock 1969 für die Hippies sein werden: Mythos und Erweckungserlebnis. Es wird, wie ein Zeitgenosse berichtet, ein voller Erfolg: «In der besten, schönsten Ordnung, im lieblichsten Frieden und Ruhe ging dies Fest vor sich und machte alle die bösen Prophezeyungen ängstlicher oder hämischer Menschen zu Schanden, die Mord, Tod und allerley Uebels – sammt Krieg und Pestilenz, wo nicht gar den Einbruch der Türken voraussahen; wovon freylich kein Wort wahr wurde.»
Die Bedeutung von Unspunnen für die Anerkennung der eidgenössischen Eigenart und Kultur in ganz Europa kann im Rückblick gar nicht hoch genug bewertet werden. Die Berner Patrizier mit dem sozialen Status der Adligen hatten ihre Standesgenossen aus dem Ausland eingeladen. Sie erschienen in grosser Zahl. Zeitgenössische Quellen sprechen von bis zu 600 Gästen. Prinzen, aber auch die Granden aus Literatur und Kunst. Sie alle verbreiten die Kunde über dieses wunderbare Fest in ganz Europa. So gelingt es auch, die einsetzenden Ströme des Fremdenverkehrs ins Berner Oberland umzuleiten. Unspunnen bewirkte damals mehr als heute alle Anstrengungen der Kurdirektoren und SVP-Wahlstrategen.
Es ging also bei Unspunnen um Politik und Kultur. Nicht um Sport. Das Schwingen spielt beim ersten Fest 1805 noch keine zentrale Rolle. Der Sieger bekommt bloss ein Schaf. Viel wichtiger ist die Kultur der wehrhaften, selbstbewussten Hirten und Älpler. Der Eidgenössische Schwingerverband wird viel später gegründet (1895). Die heutige Struktur eines «Schwingfestes mit eidgenössischem Charakter» bekommt Unspunnen sogar erst 1987. 182 Jahre nach der Gründung.
Unspunnen als Woodstock der Urchigen. Aber besser als Woodstock. Woodstock ist einmalig geblieben. Eine Wiederholung hat es nicht gegeben. Unspunnen aber erlebt alle sechs Jahre eine Neuauflage. Das angesagte Hudelwetter wird am Sonntag das Woodstock-Feeling verstärken. Und wer seine vaterländische Seele so richtig laben will, hat es Ende August 2023 so gut wie noch nie: Heute in die Swiss Life Arena nach Zürich und morgen zum Unspunnen-Fest nach Interlaken. Stadt und Land. Mehr Vaterland geht nicht. Wer dabei kein Patriot wird, dem ist nicht mehr zu helfen.