Braucht Zermatt den Ski-Weltcup? Nein. Weil Zermatt grösser ist als der Ski-Zirkus. Das Lauberhorn ist die Magie von Wengen. Und was wären Kitzbühel ohne die Streif und Adelboden ohne das Chuenisbärgli?
Zermatt aber, touristisch auf Rosen gebettet, wie Einheimische schon mal sagen, braucht für seine Magie den Ski-Weltcup nicht und wird durch Skirennen nicht berühmter: 6000 Einwohnende und gut 30'000 Besuchende in der Hochsaison.
Die Saison beginnt erst am 1. Dezember. Wie wenig die Übernachtungs- und Gastronomie-Einnahmen aus dem Skispektakel für die dörfliche Wirtschaft bedeuten, mag sich daran zeigen, dass nicht einmal alle Hotels schon geöffnet sind.
Die Magie dieses wunderlichen Ortes in einer Landschaft wie aus einem Roman von J.R.R. Tolkien kommt von einem weltberühmten Berg. Vom Matterhorn. Ein kurzer Blick zurück erklärt uns eine Magie, die weit über Skirennen hinausgeht und ihre Wurzeln auch in einer Tragödie von mehr als hundert Jahren hat.
Dieser Berg galt bis weit ins 19. Jahrhundert hinein als unbezwingbar. Die Talbewohner raunten, auf dem Gipfel befinde sich eine Stadt in Trümmern, bewohnt von Geistern der Verdammten. Diese wütenden Teufel würden Felsbrocken auf jeden Frevler hinabschleudern, der sich dem Gipfel nähere.
Nun kommt der Weltcup also nach Zermatt. Zum Matterhorn. Gleich mit der Königsdisziplin Abfahrt. Für Frauen und Männer. In Zusammenarbeit mit Cervinia als erstes grenzüberschreitendes Weltcup-Rennen. Ein historischer Moment und keine Selbstverständlichkeit: Weil die internationale Zusammenarbeit noch nicht klappte, endete einst die Herausforderung an diesem Berg mit einer Tragödie.
Der Engländer Edward Whymper und der Italiener Jean Antoine Carrel wollten eigentlich zusammen das Matterhorn bezwingen. So wie jetzt Cervinia und Zermatt gemeinsam die Herausforderung Weltcup stemmen.
Aber der Italiener ergriff die erstbeste Gelegenheit, es von Cervinia aus mit einer eigenen Seilschaft zu versuchen. Whymper, enttäuscht ob diesem «Verrat», eilte nach Zermatt hinüber und von dort aus nahm er mit einer Seilschaft ebenfalls die Erstbesteigung in Angriff.
Was dann geschah, ist hundertmal geschildert, mehrmals verfilmt und auch in einem Roman verewigt worden. Am 14. Juli 1865 haben die vier Engländer Douglas, Hudson, Hadow und Whymper in Begleitung der Führer Croz sowie Vater und Sohn Taugwalder aus Zermatt das Matterhorn erstmals bestiegen.
Aber kaum war der Gipfelrausch vorüber, stellte sich, hundert Meter unterhalb des Gipfels, die Katastrophe ein. Ein Fehltritt, ein Schrei, ein gerissenes Seil. Von den sieben kehren nur drei zurück: die beiden Zermatter und Whymper. Drei Tage später steht, von Cervinia kommend, auch Carrel auf dem Gipfel.
Diese erste hochalpine Tragödie fand weltweite Beachtung und beschäftigte die Fantasie der Europäer mindestens so wie die Mondlandung. Königin Victoria beauftragte die Regierung zu prüfen, ob es möglich sei, den Engländern das Bergsteigen zu verbieten.
Die Faszination, die Magie des Matterhornes (und des Dorfs Zermatt) können wir nur verstehen, wenn wir das Drama um die Erstbesteigung kennen.
Und nun also die wohl grösste Herausforderung seit der Erstbesteigung von 1865. Das erste Weltcup-Rennen in Sichtweite des Matterhorns. Romantiker warnen: in Reichweite seiner Dämonen. Vor einem Jahr musste die Premiere verschoben werden (Schneemangel) und nun ist es ein Hoffen und Bangen, ob der Wettergott gnädig sein wird. Die Premiere vor einem Jahr fiel dem Wetter zum Opfer und nun ist die Abfahrt vom Samstag verschoben worden. Ob das Rennen am Sonntag oder gar am Montag möglich sein wird, ist offen. Die Wetterprognosen sind ungünstig. Die Dämonen des Berges wollen offenbar keine Skirennen.
Die Herausforderung ist wahrlich eine gewaltige. Der Ski-Weltcup von Zermatt ist die Mondlandung des alpinen Skirennsportes. So wenig zwingend erforderlich wie der Transport eines Menschen auf den Mond. Aber eine ähnlich schwierige Herausforderung in einer menschenfeindlichen, hochalpinen Gegend.
Seit es den Ski-Weltcup gibt (1967) lebt der Traum von einem Rennen in Zermatt. Erst Franz Julen hat diesen Traum wahr gemacht. Einst Servicemann bei seinem Bruder Max (Riesenslalom-Olympiasieger 1984) und heute Bergbahnen-General im Dorf.
Die Logistik mit dem mühseligen, täglichen Aufstieg zum höchstgelegenen Ski-Wettkampfgelände der Alpen ist wohl die aufwändigste im Weltcup-Zirkus. Niemand sagt, wie hoch die Kosten sind. Kenner im Dorf schätzen unter Wahrung der Anonymität, dass für dieses Spektakel sieben bis acht Millionen aufgewendet werden. Die Einnahmen aus dem Ticketverkauf sind nur ein Tropfen auf den heissen Stein: Höchstens 5000 werden kommen. Zwei Drittel reisen von Cervinia aus an, ein Drittel von Zermatt. Wenn sie denn anreisen werden: Die Unberechenbarkeit des Wetters ist ein weiteres Problem: Bisher haben die Dämonen des Berges durch schlechtes Wetter alle Rennen verhindert.
Verständlich, dass Kritik diese Mondlandung des Skirennsportes begleitet. Der Sinn wird hinterfragt. Die Kosten. Die Belastung der Umwelt. Die Nachhaltigkeit und alles, was sich sonst noch für Bedenken eignet. Erst recht, als gar noch Bilder von Baggern auf Gletschern auftauchen.
Der Chor der Kritiker ist nicht verstummt und wird nicht verstummen. Aber die Karawane ist weitergezogen, die Rennen werden, so es das Wetter zulässt, durchgeführt. Marco Odermatt, die höchste sportliche Autorität in diesem Geschäft, hat dazu kürzlich gesagt: «Da wurde auch viel Seich geschrieben.»
Bei keinem anderen Skirennen sind die Magie und die Urkraft (dazu gehört auch das Wetter) der Bergwelt so sehr sichtbar, ja spürbar, erst recht durch die lange Fahrt hinauf auf über 3000 Meter. Die Männer starten – wenn es das Wetter zulässt – auf 3720 Metern Höhe, das Ziel erreichen sie auf 2865 Metern. Das Ziel liegt also erheblich höher als der Start der legendären Lauberhorn-Abfahrt (2315 Meter).
Die aufwändige, tägliche Reise von der Unterkunft in Zermatt hinauf zum Renngelände mit den Bergbahnen und inmitten der Touristinnen und Touristen ist für die Athleten eine Herausforderung. Marco Odermatt hat dazu gesagt: «Man ist sich bewusst, dass man bei einem Ziel auf 2800 Metern nicht gleich im Hotel ist wie beispielsweise in Kitzbühel, wo wir in zwei Minuten zu Fuss bei der Rezeption sind. Klar, logistisch gesehen ist es hier etwas mühsam und schwierig für uns Athleten.» Und warum nicht mit dem Helikopter fliegen? «Das ist ein Thema. Aber das Wetter ist das Problem. Wenn man unten auf den Flug wartet und es heisst plötzlich, man kann oben nicht landen, ist man der Jockel.»
So ist es. Auch Ueli Kestenholz (48) will nicht der Jockel sein und sich im Bann des Matterhorns nicht in Lebensgefahr bringen. Ueli Kestenholz? Ja, richtig, der Snowboard-Pionier und olympische Held von 1998 (Bronze) und 14-facher Weltcup-Sieger. An ihm lässt sich die besondere Herausforderung Zermatt sehr gut zeigen.
Freitag, der 10. November. Es schneit im Dorf. Das Wetter ist garstig. Und doch macht sich der Chronist auf den Weg nach oben. Auf die erste Bahn wartet einer, der mit langen Haaren aussieht wie ein Rock’n’Roller der Berge. Noch ein bisschen cooler als alpine Skistars: Ueli Kestenholz.
Er ist heute mit der Homebase Interlaken Spezialist für alles, was neben Flugzeugen und Ballons fliegt und segelt, hat einen ganz besonderen Auftrag für das Modeunternehmen «Boss», das sich hier als Sponsor engagiert: Mit dem Gleitschirm in den Zielraum einschweben und dem Sieger den Pokal in die Hand drücken. Kein Problem. Oder?
Bei dieser Ski-Mondladung in Zermatt ist nichts einfach und alles eine Herausforderung. Vieles ist in warmen Büros in den urbanen Zentren erdacht und geplant worden. Aber in der Ausführung draussen in der hochalpinen Wildnis kompliziert und schwierig. Ueli Kestenholz ist nicht nur wegen des Wetters in Sorge. Er habe den Pokal, den er da vom Himmel herunterbringen soll, soeben zum ersten Mal in der Hand gehalten. «Ein Ungetüm und so schwer, dass ich noch gar nicht weiss, ob ich mit diesem Ding tatsächlich fliegen kann.»
Aber nun geht es erst einmal darum, herauszufinden, wie und wo das Fliegen mit dem Gleitschirm überhaupt möglich ist. Auch wenn jetzt kein Flugwetter ist, so kann er doch auf Ski das Gelände erkunden und bekommt eine Ahnung davon, wie die Winde wehen. Die Luftströmungen werden für ihn hier oben selbst bei schönstem Wetter eine ganz besondere Herausforderung sein. Dazu gilt es herauszufinden, ob Drohnen oder gar Helikopter die Flugbahn kreuzen könnten. Weil sich das Zielgelände auf italienischem Boden befindet, ist auch noch zu klären, ob es eine Bewilligung fürs Eindringen in den italienischen Luftraum erforderlich ist. Nicht, dass es ihm ergeht wie Bundesrat Alain Berset bei seinem Cessna-Flug nach Frankreich. Ueli Kestenholz sagt, ganz so dramatisch sei es dann doch nicht. Air Zermatt fliege ja mit den Hubschraubern hin und her und auch über die Grenze und habe das wohl geklärt.
Kommt dazu: Oben auf fast 4000 Metern ist die Luft dünner. Auch das hat einen Einfluss auf die Flugeigenschaften des Gleitschirms. Und überhaupt: Die Höhenluft bedeutet weniger Sauerstoff in den Muskeln. Selbst ein Modellathlet wie Ueli Kestenholz sagt: «Man spürt es, nicht wahr?»
Mehrere Tage minutiöser Vorbereitung sind also allein für ein Werbe-Spektakel am Rande erforderlich, das – wenn es denn stattfinden kann – nur für ein paar Sekunden auf den TV-Schirmen sichtbar sein wird. Bei der Mondlandung des Skisportes ist eben alles aufwändig.
Aber dann die Zeit doch lieber für einen Kaffee verwenden. 😊😉
Die frage stellt sich genau andersrum: braucht der ski-weltcup zermatt. Meine antwort, nota bene als ski(-weltcup)fan: nein. Grössenwahnsinniges prestigeprojekt ohne sportlichen mehrwert.