«Ich will die Lust nie verlieren» – wie Odermatt über den Rekord von Hirscher denkt
Ein paar Tage noch, dann beginnt die neue Ski-Saison. Wie immer mit einem Riesenslalom auf dem Gletscher von Sölden. Zeit für die kleinen und grossen Fragen in der Welt des Marco Odermatt.
Die kleine: Wie viel Ärger ist noch vorhanden über seinen Ausfall vor einem Jahr in Sölden? Odermatt schmunzelt: «Nein, nein, alles gut! Das kümmert mich gar nicht. Es ist ja nicht so, dass es für mich in Sölden noch nie funktioniert hätte. Ich durfte schon zweimal gewinnen. Ich gehe mit einem guten Gefühl nach Sölden.»
Womit wir bei der grossen Frage wären: 2022, 2023, 2024 und 2025 – viermal in Serie gewann Odermatt zuletzt den Gesamtweltcup. Nur noch Marc Girardelli (5) und Marcel Hirscher (8) liegen damit vor ihm. Wie sehr hat Odermatt den Rekord von Hirscher in seinen Gedanken? Zwischen 2012 und 2019 gewann der Österreicher den Gesamtweltcup achtmal hintereinander. Odermatt ist mittlerweile bei der Hälfte angelangt.
Als CH Media Odermatt mit der Hirscher-Rekord-Frage konfrontiert, gibt der 28-Jährige eine glasklare Antwort: «Dieser Rekord ist für mich kein Thema. Der ist für mich, das kann ich wirklich sagen, kein Ziel.» Warum? «Um diesen Rekord zu schlagen, müsste ich den Gesamtweltcup noch fünfmal gewinnen. Das liegt schon in sehr weiter Ferne. Und ich betone noch einmal: Ich fahre lieber zwei, drei Jahre länger Ski mit einem reduzierten Pensum, anstatt mich bis aufs letzte Prozent Energie und Lust runterzuhunden, um vielleicht dann noch ein Jahr länger um den Gesamtweltcup mitzufahren.»
Marc Girardelli (Lux) 5 – 11
Hermann Maier (Ö) 4 – 14
Marco Odermatt (Sui) 4 – 13
Pirmin Zurbriggen (Sui) 4 – 13
Gustav Thöni (Ita) 4 – 9
(Ohne Kombination)
Odermatts Ansicht mag auf den ersten Blick überraschen. Schliesslich geht es im Sport vordergründig vor allem um: Siege und Rekorde. Andererseits zeugt die Aussage von einer sehr gesunden Haltung, die nicht nur den Sport, sondern auch das Leben betrachtet. Gerade wer auf die Geschichte von Hirscher blickt, erkennt die Gefahren.
Der Österreicher war besessen vom Erfolg. Aber er hat sich während der Jagd auf immer weitere Rekorde selbst verloren. Darum trat er 2019 als 30-Jähriger zurück. In der Dokumentation «Marcel», die in diesem Frühjahr ausgestrahlt wurde, blickt er zurück. «Ich bin für viele relativ unerwartet und sehr schnell zurückgetreten. Ich war mental und körperlich ausgebrannt, erledigt. Weitermachen war keine Option mehr – auch wenn es mir nicht leichtgefallen ist.»
Fünf Jahre später, im Herbst 2024, gab Hirscher mit 35 Jahren sein Comeback. Es wurde – zumindest bis anhin – keine Erfolgsgeschichte. Für Holland, das Geburtsland seiner Mutter, startend, absolvierte er drei Rennen. Dann riss er im Training sein Kreuzband. Aktuell arbeitet er an seiner Rückkehr. Noch ist unklar, wann er zurückkehrt.
Für Odermatt ist die Frage nach dem Erfolgsmanagement so zentral wie noch nie in der Karriere. Wie gelingt es, die Freude am Skifahren zu behalten? Wie gelingt es, Erfolge weiterhin zu geniessen und sie nicht als selbstverständlich anzusehen? Wie gelingt es, auszublenden, wenn Fans und Öffentlichkeit Silbermedaillen an Grossanlässen als leise Enttäuschung betiteln?
Klar ist: Odermatt hält derzeit an seinem bestehenden Programm fest. Das bedeutet, er tritt weiter in drei Disziplinen an: Riesenslalom, Super G und Abfahrt. Das sind in dieser Saison, inklusive Olympischen Spielen, 30 Rennen innert fünf Monaten.
Die Frage im Hinblick auf die Zukunft lautet: Wie lange hält er am Riesenslalom fest? Es ist gut möglich, dass sich der Fokus mit zunehmendem Alter auf die Speed-Disziplinen verschiebt. Odermatt selbst sagt: «Als Allrounder bin ich am Zenit angekommen. Das habe ich schon in der letzten Saison gespürt. Ich bin auf der Abfahrt in vielen Passagen nochmals stärker geworden. Dafür habe ich im Riesenslalom ein bisschen eingebüsst. Das ist der schmale Grat, den man als Allrounder meistern muss.»
Für den Moment aber gilt: Odermatt ist erneut der haushohe Favorit auf den Sieg im Gesamtweltcup. Voraussetzung dafür ist natürlich, dass er gesund bleibt. Eines betont Odermatt allerdings auch: «Ich bin mir bewusst, dass es in den letzten Jahren hinter mir immer enger wurde. Ich kann mir nur sehr wenige Fehler erlauben.» Gut möglich, dass der grösste Konkurrent aus dem eigenen Lager kommt: Loic Meillard. Wenn der 28-Jährige Techniker seine Spätform in die neue Saison zu retten vermag und für einmal von gesundheitlichen Problemen verschont bleibt, könnte er Odermatt zumindest herausfordern. (aargauerzeitung.ch)