«Ich hoffe, du gewinnst das Turnier»: Die Botschaft, die Iga Swiatek ihrer Bezwingerin am Netz mit auf den Weg gab, war unmissverständlich und sie gibt die Stimmungslage in Wimbledon ziemlich gut wieder. Mit ihrer Geschichte hat sich Elina Switolina in die Herzen der Menschen gespielt.
Elina Svitolina 🇺🇦 fue madre en octubre de 2022. Volvió a jugar al tenis en abril. En mayo salió campeona en Estrasburgo. Hoy se clasificó a semifinales de #Wimbledon eliminando nada menos que a Iga Swiatek, N°1 del mundo.pic.twitter.com/YJtFU4xL7h
— VarskySports (@VarskySports) July 11, 2023
Die Ukrainerin sagt: «Für mich hat aus zwei Gründen ein neues Kapitel im Leben begonnen.» Der eine Grund war gewählt: Im Oktober 2022 wurden sie und der französische Tennisspieler Gaël Monfils Eltern einer Tochter, Skaï. Der andere ist Schicksal: der russische Angriffskrieg in der Ukraine. Die 28-Jährige sagt: «Der Krieg und die Mutterschaft haben mich zu einem anderen Menschen gemacht. Der Krieg, er hat mich stärker gemacht.»
Wann immer sie auf den Platz geht, spielt sie nicht nur für sich, sondern für ein ganzes Land. Und manchmal, da spielt Switolina nicht nur gegen jemanden auf der anderen Netzseite, sondern gegen das, was für sie das Böse verkörpert. Dann nämlich, wenn sie auf eine Russin oder Belarussin trifft wie im Achtelfinal auf Viktoria Azarenka. Switolina sagt: «Ich fühle dann mehr Druck, zu gewinnen. Ukrainer und Ukrainerinnen kämpfen für ihre Werte, für die Freiheit. Und ich kämpfe hier an meiner Frontlinie.»
Nach der Geburt ihrer Tochter sei der Sieg gegen Azarenka in Wimbledon «der zweitglücklichste Moment meines Lebens». Es erfülle sie mit Stolz und Genugtuung, wenn sie den Menschen in der Ukraine mit ihren Siegen etwas Glück in ihr Leben bringen könne. Zu erfahren, wie sehr sich ihre Landsleute freuten, bringe ihr Herz zum Schmelzen, sagte Switolina.
Nach der Partie verzichtete Switolina wie immer seit ihrer Rückkehr im April nach Spielen gegen Kontrahentinnen aus Russland und Belarus auf einen Handschlag. Azarenka wusste das und wartete deshalb nicht am Netz, sondern zollte Switolina mit einer Handbewegung Respekt für deren Leistung. Weil das Publikum das nicht sehen konnte, interpretiere es das als Verweigerung Azarenkas und buhte sie beim Verlassen des Platzes aus.
In Paris sagte Switolina: «Ich empfinde Wut und Trauer, Dunkelheit und Schmerz im Herzen. Es ist eine Schwere, der ich mich nicht entziehen kann, der sich niemand in der Ukraine entziehen kann. Aber ich bin auch dankbar, dass ich eine Stimme habe, die ich erheben kann.» Eine Flagge, für die sie spiele, für ein ganzes Land, für ihre Heimat, die Ukraine.
In London sagt sie: «So lange russische Truppen in der Ukraine sind, so lange wir unser Land nicht zurückbekommen, werde ich Russinnen und Belarussinnen nicht die Hand reichen.» Nicht aus Mangel an Respekt, sondern weil sie nicht will, dass die Geste aus dem Kontext gerissen wird.
Jeder verweigerte Handschlag mit einer Russin oder Belarussin schiebt Träumereien, sportliche Erfolge propagandistisch auszuschlachten den Riegel. Mehr noch: jeder ukrainische Sieg, jeder Erfolg, jeder Titel bewirkt das Gegenteil. Das macht Switolina zum Stachel im Fleisch Russlands.
Switolina gewann 17 Turniere, war die Nummer 3 der Welt und gehörte während Jahren der absoluten Weltspitze an. Sie war der Inbegriff von Konstanz, aber bei Grand-Slam-Turnieren kam sie nur zwei Mal bis in den Halbfinal, 2019 in Wimbledon und bei den US Open. Nur zwei Mal stand sie bei zwei aufeinanderfolgenden Major-Turnieren im Viertelfinal.
Nun gelingt ihr das gleich in ihren ersten beiden Turnieren nach der Rückkehr. Die Erzählung, Krieg und Mutterschaft hätten sie zu einem anderen Menschen gemacht, ist keine schöne Illusion, sondern Tatsache.
Bis ins Jahr 1877 reicht die Geschichte Wimbledons zurück, seit 1884 gibt es das Turnier der Frauen. Nur vier Frauen haben es geschafft, das Turnier als Mütter zu gewinnen: Blanche Bingley, Charlotte Cooper und Dorothe Lambert Chambers zwischen 1894 und 1914. In der Neuzeit gelang das Kunststück nur der Australierin Evonne Goolagong-Cawley 1980.
Historisch wäre ein Turniersieg Switolinas auch deshalb, weil das noch nie einer Spielerin mit Wildcard gelungen ist - bisher hat das lediglich Goran Ivanisevic 2001 bei den Männern geschafft. Gut möglich, dass Switolina dafür im Final, sollte sie diesen erreichen, nicht nur für die Ukraine und sich spielt, sondern mit Arina Sabalenka auch noch gegen eine Belarussin. (aargauerzeitung.ch)