Manchmal sind Zufall und Schicksal einerlei, verschwimmen die Grenzen zwischen Fakt und Fiktion. Am Montag, 10. Juli, feierte Chris Eubanks in Wimbledon seinen bisher grössten Erfolg, als er mit einem Sieg gegen Stefanos Tsitsipas den Vorstoss in den Viertelfinal schaffte. «Es ist schwer, in Worte zu fassen, was ich empfinde. Ich lebe meinen Traum», sagte er.
Eubanks war nicht bewusst, dass sein «bei Weitem» grösster Sieg auf den Tag fiel, an dem Arthur Ashe seinen 80. Geburtstag gefeiert hätte, wäre er 1993 nicht an einer Lungenentzündung verstorben, das Immunsystem geschwächt von einer Aids-Erkrankung. Fünf Jahre zuvor hatte Ashe bei einer Herzoperation eine mit HIV-kontaminierte Blutkonserve erhalten.
1975 gewann Arthur Ashe als erster und bisher einziger schwarzer Mann in Wimbledon. Sein Sieg bei den US Open 1968 fiel in eine politisch brisante Zeit. Ein halbes Jahr zuvor war Martin Luther King Jr. ermordet worden. Es folgten Unruhen in über hundert Städten, die vier Tage andauerten.
Ashes Leben pendelte zwischen der von Weissen dominierten Welt, in der er sich als Tennisspieler bewegte. Und der, in die er als Nachkomme von afroamerikanischen Vorfahren hineingeboren worden war. Als Sportler war Ashe überall willkommen, aber nirgends gehörte er richtig dazu. 2021 war sein Leben die Grundlage des Dokumentarfilms «Citizen Ashe».
In diesem spielte Chris Eubanks zwar nicht die Hauptrolle, weil er keinen einzigen Satz sagte, aber die entscheidende: als Double der Tennis-Ikone Ashe.
Eubanks investierte nicht nur zahlreiche Stunden ins Videostudium, um Ashes Technik zu imitieren, sondern er hörte Interviews und las Ashes Reisetagebuch «Portrait in Motion», in dem dieser über seinen Kampf gegen Rassismus sinniert. Eubanks sagt, er habe nicht nur dem Sportler, sondern auch dem Vermächtnis Ashes gerecht werden wollen, der sich nach der Karriere für soziale Projekte und Aids-Aufklärung einsetzte. «Er war ein grossartiger Spieler, aber eine Ikone ist er wegen der Dinge, die er neben dem Platz getan hat. Deshalb sprechen wir noch heute von ihm.»
Danach gefragt, was er mit Ashe besprechen würde, wenn er denn könnte, sagte Eubanks: «Ich würde ihn fragen, wie ihm mein Tennis gefällt. Wo ich mich verbessern könnte.» Nun, Ashe hätte derzeit wenig zu bemängeln.
Im Frühling erreichte Eubanks in Miami als Qualifikant den Viertelfinal und stiess im Alter von 27 Jahren erstmals in die Top 100 der Weltrangliste vor. Bis Anfang Juni fühlte er sich auf Rasen nicht besonders wohl, weshalb er in seiner Verzweiflung bei der belgischen Ex-Nummer 1 Kim Clijsters Rat suchte. Eine Woche später gewann Eubanks in Mallorca sein erstes ATP-Turnier, auf Rasen. Inzwischen steht er bei neun Siegen in Folge.
Eubanks spielt in Wimbledon erstmals im Hauptfeld und besiegte dabei den britischen Vorjahres-Halbfinalisten Cameron Norrie und mit Stefanos Tsitsipas (ATP 5) erstmals einen Spieler aus den Top 20 des Rankings.
Mit seinen 2.02 Metern Grösse verfügt Eubanks über einen wirkungsvollen Aufschlag, eine wahre Augenweide ist die einhändige Rückhand, die im modernen Tennis nur noch selten anzutreffen ist. «Er hat vor nichts Angst, schlägt sehr, sehr schnell und geht ans Netz, wenn sich ihm die Möglichkeit bietet. Er hat in diesem Jahr etwas gefunden, das er zuvor nicht hatte», sagt Eubanks' Viertelfinal-Gegner, der Russe Daniil Medwedew (ATP 3).
Was ihm gefehlt hatte? «Die Überzeugung und der Glaube, dass ich auf diesem Niveau bestehen kann», sagte Eubanks. Als Viertelfinalist gehört er in Wimbledon nun zum «Last 8 Club», hat für den Rest seines Lebens für jeden Turniertag zwei Tickets und Zutritt zum exklusiven Klub.
Während der Coronapandemie hatte sich Eubanks, den seine Landsleute Giraffe oder Zahnstocher nennen, weil er so gross und gleichzeitig dünn ist, ein Ultimatum gestellt: «Wenn ich in einem Jahr in der Weltrangliste immer noch auf Position 200 bin, kann ich etwas anderes mit meiner Zeit anstellen.» Zwischenzeitlich kommentierte er Spiele für «Tennis Channel».
Nun wandelt Chris Eubanks auf den Spuren von Arthur Ashe. Gewinnt er am Sonntag als zweiter schwarzer Mann in Wimbledon, erhält er am Ende des Turniers den Pokal, dessen Spitze eine goldene Ananas ziert. (aargauerzeitung.ch)