Roger Federer beim Training auf Rasen zuzuschauen, fühlt sich für Tennisfans ein bisschen so an wie für Kunstliebhaber die Vorstellung, Pablo Picasso beim Skizzieren seiner Werke beizuwohnen. Leichtfüssig, mühelos und geschmeidig bewegt er sich über die auf acht Millimeter Länge getrimmten Grashalme im Aorangi Park, nördlich vom Centre Court gelegen.
Es ist der Tag vor seinem ersten Spiel in Wimbledon, doch hier trainiert er schon seit Tagen. Die Trainingsanlage ist das Kleinod der liebevoll gepflegten Anlage. Noch bevor um 10.30 Uhr die Pforten geöffnet werden, herrscht hier emsiges Treiben. Helfer wässern die violetten und grünen Blumen und lasieren täglich die Holzbänke, die hier überall Sicht auf die 18 terrassenförmig angerichteten Rasenplätze bieten.
«Bis 1981 war das hier die Heimat des London New Zealand Rugby Club», sagt Peter Finn, der seit 20 Jahren Herr über den Aorangi Park ist. Dann erwirbt der All England Lawn Tennis and Croquet Club (AELTC), der Betreiber des Tennis-Turniers, das Gelände, nutzt es erst als Parkplatz und baut es später zu einer Trainingsanlage aus.
Geblieben ist das Wort Aorangi, das dem Wortschatz der indigenen Bevölkerung Neuseelands, der Maori, entstammt. «Es bedeutet «Wolke im Himmel»», sagt Finn. Eine Reminiszenz an die Ursprünge. Heute gibt es dort 18 Plätze, die der Head Groundsman, Neil Stubley, mit seinem Team von 16 Festangestellten während des ganzen Jahres hegt und pflegt.
Ihm ist es wichtig, dass alle Plätze in einwandfreiem Zustand sind, nicht nur der Centre Court, wo am übernächsten Wochenende die Einzel-Finals über die Bühne gehen. Schliesslich werden diese, mit Ausnahme des Hauptplatzes und der sechs so genannten «Show Courts», von Mai bis September von den rund 200 Klubmitgliedern bespielt.
Bereits neun Tage vor Turnierbeginn treffen die ersten Spieler für die «Overseas Week» ein. In den Tagen vor dem ersten Aufschlag wollen gegen 600 Athleten auf dem heiligen Rasen trainieren. Logistische Herausforderungen, welchen die Organisatoren mit strikten Regeln begegnen. In Wimbledon herrscht auch deswegen ein Mehrklassensystem.
Es gibt eine Garderobe, zu der nur Gesetzte Zutritt haben, und ein «Last 8»-Zelt für jene, die hier mindestens einmal in die Viertelfinals vorgestossen sind. Gesetzte können zudem mehr trainieren; am Sonntag vor Turnierbeginn sind die Hauptplätze ihnen vorbehalten.
Nach den Einheiten ziehen sich Spieler und Betreuer in den Aorangi Pavilion, das ehemalige Klubhaus des Rugby-Klubs, zurück. Dort steht ihnen eine Lounge mit Sofas und weiteren Sitzgelegenheiten zur Verfügung. Im Restaurant steht ein reichhaltiges Buffet aus Salaten, Antipasti, verschiedenen Broten, Fleisch, Fisch und sogar Sushi zur Verfügung.
Bei der Verpflegung, erzählt ein Koch, gibt es skurrile Sonderwünsche. «Eine Lady möchte ihre Pasta ungewürzt, ohne Öl, ohne Sauce, nur mit Ketchup. Ein Gentleman veredelt Lachs mit einer Bolognaise-Sauce.» Namen, so viel Privacy muss sein, nennt er keine.
Im Klubhaus stehen Garderoben zur Verfügung, eine für Misses, eine für Mister, wie die Spieler hier genannt werden. Neben sanitären Anlagen stehen Eisbäder zur Verfügung. Wertgegenstände können in Schliessfächern verstaut werden, die mit Ladestationen für elektrische Geräte ausgestattet sind.
Auf der Terrasse über dem von dichtem Efeu bewachsenen Aorangi Pavilion spielen die Athleten Karten, tauschen sich mit Kollegen aus oder trinken Kaffee. Kurzentschlossene können sich dort vom klubeigenen Coiffeur sogar einen neuen Haarschnitt verpassen lassen.
Besonders entspannt sind Roger Federer, Rafael Nadal oder Andy Murray aber an spielfreien Tagen. Dann nehmen sie sich nach der Massage ausgiebig Zeit für Fotos und Autogramme für die an den Zäunen wartenden Anhänger. Einziger Nachteil: der Platzmangel.
Denn überall, wo Federer auftaucht, bricht Hysterie aus. «Manchmal steigen sie übereinander und drängeln nach vorne gegen die Abschrankungen. Das ist gefährlich und ich sehe es nicht gerne», sagt Federer. «Wenn das passiert, verzichte ich aus Sorge um die Fans auf Autogramme und Fotos.»
Zwar wird in Wimbledon die Tradition mehr als irgendwo sonst hochgehalten, doch auch hier hat die Metamorphose zum Grossanlass, der auf allen Kanälen Menschen erreicht, längst eingesetzt. Dazu gehören ein Radio, ein TV-Team oder zahlreiche Helfer, welche die sozialen Medien mit exklusiven Inhalten bespielen.
Als Sinnbild für die Weiterentwicklung steht das Dach über dem Centre-Court, das seit 2009 in Betrieb ist. Auch über Court 1, dem zweitgrössten Platz, wird derzeit ein Dach errichtet, um etwaigen Wetterkapriolen vorzubeugen. Von dieser Expansion bleibt auch das Trainingsgelände nicht verschont.
Der sogenannte «Master Plan» sieht vor, dass die Plätze am Rande der Anlage bis 2028 neu nach Sonne und Wind ausgerichtet werden und so, dass die Zuschauer die gesamte Anlage überblicken können. Federer wird dann wohl nicht mehr spielen. Was bleiben soll, ist der Name: Aorangi Park, Wolke im Himmel. (aargauerzeitung.ch)