Seine Rückkehr warf schon Wochen zuvor ihre Schatten voraus, denn lange war nicht sicher, ob Novak Djokovic überhaupt noch einmal als Tennisspieler nach Australien zurückkehren würde. Vor einem Jahr war der Serbe abgeschoben worden, weil er nicht gegen das Coronavirus geimpft ist. Damit einher ging eine dreijährige Einreisesperre. Kurz vor dem Jahreswechsel wurde der neunfache Australian-Open-Sieger dann begnadigt. Ohnehin sind sämtliche Reiserestriktionen aufgehoben.
Zwar war die Frage beantwortet, ob Djokovic wieder nach Australien wird reisen können. Nicht aber, wie die Bevölkerung auf ihn reagieren würde. Während 263 Tagen war Melbourne im Lockdown – länger als jede andere Stadt der Welt. Familien waren getrennt, Grenzen geschlossen. Menschen konnten nicht von ihren sterbenden Angehörigen Abschied nehmen, sie verpassten Geburten und Geburtstage. Entsprechend gross war der Zorn der Bevölkerung, als die Tenniskarawane mitten in einer der schlimmsten Wellen der Coronapandemie ihren «Happy Slam» durchführte.
Novak Djokovic wurde zur Symbolfigur, an der sich der Zorn entlud, weil er sich aus persönlicher Überzeugung nicht gegen das Coronavirus impfen lässt. Der Serbe glaubte damals, er könne dank einer Spezialbewilligung einreisen, die ihm die Australian Open in Person von Turnierdirektor Craig Tiley übermittelt hatten. Djokovic machte eine kürzlich durchgemachte Infektion geltend, die es ihm verunmögliche, sich impfen zu lassen.
Doch statt seiner Anhänger, die in Melbourne besonders zahlreich sind, weil hier eine grosse serbische Diaspora beheimatet ist, nahm ihn die Australian Border Force in Empfang. Djokovic musste in Abschiebungshaft und wurde nach einem aufsehenerregenden Prozess abgeschoben.
Djokovic wurde als Ikone und Posterboy für Impfgegner gebrandmarkt, der mit seiner ablehnenden Haltung gegenüber der Impfung alleine durch seine Anwesenheit in Australien soziale Unruhen provoziere. Tatsächlich versuchten entsprechende Gruppierungen Kapital aus der Geschichte zu schlagen und es kam in der Innenstadt zu Ausschreitungen.
Der Fall hatte nicht nur Australien gespalten. Djokovics Anhänger sahen ihn als Opfer. Seine Kritiker stiessen sich daran, dass er als noch positiv Getesteter vor dem Abflug ein Interview gegeben und Kinder getroffen hatte. Hier, vor allem in der Heimat Serbien, Märtyrer, dort Buhmann.
Alles vergeben und vergessen, wenn man Novak Djokovic ein Jahr später in Australien sieht. Die Pandemie ist auch hier in Vergessenheit geraten – und die meisten Zuschauer haben Djokovic in Melbourne längst wieder ins Herz geschlossen. Mit neun Titeln ist er der Rekordsieger, seit 2018 hat er auf dem fünften Kontinent nicht mehr verloren. Und gewinnt er erneut den Titel, zieht er mit 22 Grand-Slam-Titeln nicht nur mit dem Titelverteidiger Rafael Nadal gleich, sondern wird auch wieder die Nummer 1 der Welt.
Lots of love for Novak 🇷🇸 💕@DjokerNole • #AusOpen • #AO2023 pic.twitter.com/CovFcQdsp7
— #AusOpen (@AustralianOpen) January 17, 2023
Djokovics erstaunlich schnelle Wandlung vom Buhmann und Posterboy der Impfgegner zum fast uneingeschränkten Liebling der Massen hat auch mit seinem bedachten Handeln zu tun. Nie äusserte er Groll, immer zeigte er sich versöhnlich. Er habe sich gefreut, nach Australien zurückzukehren und Tennis zu spielen. «Denn das ist es, was ich will, am besten kann und auch im letzten Jahr tun wollte», sagte Djokovic nach seinem souveränen 6:3, 6:4, 6:0-Auftaktsieg gegen den Spanier Roberto Carballes Baena.
«Es war sehr emotional für mich. Ich wusste nicht, welchen Empfang ich bekommen würde. Wie es sein würde nach allem, was im letzten Jahr vorgefallen war», sinnierte Djokovic schon im Vorfeld. «Deshalb bin ich umso dankbarer für die Liebe und Unterstützung, die ich hier erfahre.»
Dass sich Djokovic ein Jahr nach dem Visumsdesaster grosser Beliebtheit erfreut, dürfte auch dem Umstand geschuldet sein, dass mit dem Rücktritt von Roger Federer ins Bewusstsein gerückt ist, welch ausserordentliche Ära des Männertennis sich dem Ende zuneigt, die der Serbe massgeblich mitgeprägt hat. Sein grösster Rivale, Rafael Nadal, verlor sechs seiner letzten acht Einzel und meinte halb amüsiert, halb genervt, er werde ständig nach dem Zeitpunkt seines Rücktritts gefragt, wenn er verliere.
Und der vierte Grosse dieser Ära, der Schotte Andy Murray, sagte, er sei nur eine grössere Verletzung vom Karriereende entfernt. Novak Djokovic hingegen wirkt derzeit so unantastbar wie zu seinen besten Zeiten und so fit wie ein Mittzwanziger. Und solang Djokovic spielt, solang er noch Rekorde bricht, so lang lebt auch die Erinnerung an diese Ära weiter. (aargauerzeitung.ch)
Schnittmenge aller Menschen mit schlechtem Gedächtnis, Tennisinteresse und Verachtung aller im Gesundheitswesen arbeitenden Personen?
Djokovic ist niemals ein Liebling, sorry.