Eigentlich gehört einer wie er hier nicht hin. Am Sonntag wird Brock Purdy mit den San Francisco 49ers im Super Bowl in Las Vegas um den Titel der NFL spielen. Dabei wurde er vor nicht einmal zwei Jahren im Draft beinahe gar nicht berücksichtigt. Erst mit dem allerletzten Pick – dem 262. insgesamt – entschied sich San Francisco für den Quarterback. Der letzte Pick des Drafts wird traditionell «Mr. Irrelevant» genannt und gar mit einer Reise nach Kalifornien belohnt.
Der Spitzname ist auch insofern passend, als kaum einem der im Draft als Letztes ausgewählten Spieler eine erfolgreiche NFL-Karriere gelingt. Und doch steht Purdy – mittlerweile auch als «Mr. Relevant» bezeichnet – nun nur noch einen Sieg vom bedeutendsten Titel im American Football entfernt. Nur schon aufgrund seiner Position ist er eine der wichtigsten Figuren bei den 49ers, die es im Super Bowl (Montag, 0.30 Uhr) mit den Kansas City Chiefs um Superstar Patrick Mahomes zu tun bekommen. Die Zweifel an seinen Fähigkeiten und seiner Bedeutung für sein Team bei vielen Fans und Experten konnte Purdy damit aber nicht beseitigen.
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Daran ändern die starken Statistiken, die er in dieser Saison aufs Papier bringt, nur wenig bis gar nichts. In der Regular Season warf er nicht nur die drittmeisten Touchdowns (31) und erreichte durch Pässe den fünfthöchsten Raumgewinn (4280 Yards), sondern führte die NFL auch beim Quarterback-Rating an. Dabei handelt es sich um einen Wert, der aus verschiedenen für die Position wichtigen Statistiken errechnet wird.
Trotzdem verweisen die Kritiker stets auf seine starken Mitspieler wie Runningback Christian McCaffrey, Tight End George Kittle oder Allzweckwaffe Deebo Samuel und auch auf Trainer Kyle Shanahan, der als kreatives Mastermind gilt, was das Kreieren neuer Spielzüge angeht. Purdy sei lediglich ein «Game-Manager», sagt beispielsweise der ehemalige Star-Quarterback Cam Newton. Zwar lobte er den 24-Jährigen für seine Leistungen, doch sei er kein Unterschiedsspieler und nicht der Grund für den Erfolg seines Teams. Vielmehr sei er der zehntbeste Spieler der 49ers, wenn man die Defense ebenfalls miteinbezieht.
ESPN-Experte Ryan Clark schlug vor Kurzem in dieselbe Kerbe, als er sagte: «Brock Purdy macht keinen seiner Mitspieler besser.» Er habe zwar gut gespielt, doch führe er lediglich die Offensive von Kyle Shanahan aus und profitiere vor allem von der Explosivität von McCaffrey und Co. Dass San Francisco in der laufenden Saison nur eines von vier Spielen gegen eine der zehn besten Verteidigungen der NFL gewinnen konnte und Purdy dabei nur fünf Touchdowns, aber acht Interceptions geworfen hat, kommt ihm da nicht zugute.
In gewisser Hinsicht wird das Argument von Experte Clark auch durch die Statistik gestützt. Nach dem 13. Saisonspiel der 49ers teilte Steven Ruiz von The Ringer eine schier unglaubliche Statistik. So würde Purdy die NFL mit 8,8 Yards Raumgewinn pro Wurf selbst dann anführen, wenn einzig seine Passempfänger für den Raumgewinn sorgen, also wenn nur jene Würfe gezählt werden, welche den Ursprungspunkt des Spielzugs (die «Line of Scrimmage») nicht überqueren.
Das ist ein gefundenes Fressen für Purdys Kritiker, die ihn zum Teil auch zu Recht dafür kritisieren, dass er nicht den stärksten Arm hat und im Vergleich zu anderen Quarterbacks nicht der beste Athlet ist. Doch wird dabei oftmals ausser Acht gelassen, dass Purdy eine der höchsten Quoten an sogenannten explosiven Spielzügen, durch die mehr als 20 Yards Raumgewinn erzielt werden, der NFL-Geschichte aufweist. So sagt Ben Solak von The Ringer: «Seine Genauigkeit bei langen Pässen unterscheidet ihn von seinem Vorgänger Jimmy Garoppolo und deshalb passt er besser in die Offensive der 49ers.»
Could @brockpurdy13 go from Mr. Irrelevant to Mr. MVP? 👀 @Invisalign
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Um Purdy zu beurteilen, müssen beide Aspekte gesehen werden. Einerseits profitiert er selbstverständlich vom System seines Trainers und den herausragenden Spielern um ihn herum – nicht zuletzt der O-Line um den grossartigen Trent Williams. Im Schnitt holen die Passempfänger nach dem Catch weitere 6,7 Yards Raumgewinn, dies ist der Bestwert der aktuellen Saison. Andererseits legen Purdys Pässe durchschnittlich 7,2 Yards in der Luft zurück, bevor der Mitspieler diesen fängt. Hierbei handelt es sich um den zweitbesten Wert der NFL.
Ausserdem überzeugt er auch durch seine schnelle Entscheidungsfindung. Diese habe er schon früh entwickelt, wie sein Vater gegenüber «The Athletic» erzählt. So habe er NFL-Spiele schon im Schulalter wie ein Quarterback beobachtet und genau sagen können, was da gerade passiere. «Es war ziemlich verrückt», sagt Shawn Purdy. Die Fähigkeiten, die sich dessen Sohn auch durch das im Kindesalter schnellere Flag Football angeeignet hat, zeigt er noch heute. Ihn ausschliesslich als «Game-Manager» abzustempeln, greift also zu kurz. Zumal er auch unter Druck der Verteidiger meist die Ruhe bewahrt und genaue Pässe spielt. Fast 70 Prozent seiner Zuspiele in dieser Saison fanden den Weg zum Mitspieler.
Wie es ist, wenn man trotz grosser Erfolge nur wenig Anerkennung für das Geleistete bekommt, wissen nur wenige besser als Kurt Warner. Der heute 52-Jährige blieb im Draft 1994 gar gänzlich unberücksichtigt und schaffte es erst vier Jahre später – über den Umweg der damals noch existierenden NFL Europe – in die beste Liga der Welt zu den St.Louis Rams. In seiner zweiten Saison verletzte sich der eigentliche Stamm-Quarterback in der Vorbereitung. Daraufhin sprang Warner ein und führte die Rams in seiner ersten Saison als NFL-Starter zum Super-Bowl-Sieg und wurde zum MVP der Regular Season als auch des Finalspiels gewählt.
«Glaubt ihr, die Leute haben danach gesagt: ‹Der kommt in die Hall of Fame.›? Nein, sie fragten sich, ob das nur Glück gewesen sei und ob ich das nochmal zeigen kann», erzählt Kurt Warner bei ESPN. In der Folge sei es sein einziges Ziel gewesen, die Zweifler verstummen zu lassen. Seit 2017 ist der frühere Quarterback tatsächlich in der Hall of Fame.
Davon ist Purdy noch weit entfernt, der Titel sowie die Auszeichnung des wertvollsten Spielers im Super Bowl sind aber definitiv in Reichweite. Bei den San Francisco 49ers zweifelt niemand daran, dass ihm das gelingen kann. «Ein wahnsinnig guter ‹Game-Manager›», sagte Linebacker Fred Warner nach dem Halbfinal-Sieg gegen Detroit nicht ohne Sarkasmus und stellte klar: «Er ist der Grund, dass wir im Super Bowl stehen.» Christian McCaffrey fügte an: «Ich kann nicht genug Gutes über ihn sagen. Alles, was er getan hat, seit er hier ist, ist auf einem sehr hohen Niveau zu spielen. Wir können uns glücklich schätzen, ihn als Quarterback zu haben.»
Während die viele Kritik, die immer wieder auf ihren Mitspieler einprasselt, einige Spieler der 49ers zu beschäftigen scheint, gibt Purdy nicht viel auf die Meinung der anderen. Er sagt einzig: «Ich finde es ein bisschen lustig, weil wir ja erfolgreich sind. Ich denke, dass ich mit der Zeit etwas Respekt bekomme, aber es ging für mich nie darum, jemandem zu beweisen, dass er falschliegt. Ich will mir nur selbst beweisen, dass ich richtigliege.»
Dass er mit der teils negativen Meinung über ihn so locker umgeht, liegt auch daran, dass er es nicht anders kennt. In der Jugend musste der in Arizona geborene und aufgewachsene Purdy auch schon in der Offensive Line aushelfen, da sein Team bereits einen Quarterback hatte. Erst als es im Endspiel mit drei Touchdowns in Rückstand lag, setzte der Trainer dann doch auf Purdy, der sein Team fast noch zum Sieg führte. Später spielte er nicht für eines der ganz grossen Colleges, sondern für Iowa State. Dann wurde er im Draft trotz vier guter Jahre erst an letzter Stelle ausgewählt.
Purdy musste sich also immer wieder beweisen, und trotzdem war er stets von sich überzeugt. So habe er seinen Mitspielern Kittle, McCaffrey und Kyle Juszczyk in seiner ersten Saison als Profi, als er nominell nur der dritte Quarterback war, bereits gesagt: «Gebt mir einfach eine Chance, ich kann eine Menge Spielzüge machen und werde euch alle mit Pässen füttern.» Zunächst fanden die erfahreneren Spieler amüsant, wie selbstbewusst der Rookie war, bald sollten sie aber merken, dass die Selbstsicherheit Purdys nicht von irgendwo kam.
Einige Wochen später verletzte sich nach dem Stamm-Quarterback Trey Lance nämlich auch noch Jimmy Garoppolo, woraufhin Purdy die Zügel in die Hand nahm. Und wie. Die 49ers gewannen die Partie ebenso wie die sieben folgenden. Von da an zweifelte keiner seiner Mitspieler mehr an seinen Fähigkeiten. Erst im Halbfinal gegen Philadelphia, als Purdy sich früh verletzte, unterlag San Francisco wieder.
Trotz seiner starken ersten Saison versuchten die 49ers aber, Tom Brady zu verpflichten. In der Organisation herrschte Unsicherheit, inwiefern sich Purdy von der Schulterverletzung erholen könne. Als Coach Shanahan ihn vom Kontakt zu Brady in Kenntnis setzte, sagte Purdy: «Klar, das verstehe ich. Schliesslich ist er der Beste der Geschichte.» Dennoch habe es ihn etwas gewurmt und ihm zusätzlichen Antrieb gegeben.
Dabei schwingt auch mit, dass er mit 1,85 m nie der grösste oder athletischste Spielmacher war und ihm auch deshalb nie etwas einfach so zugeflogen ist. Am Ende konnten die 49ers Tom Brady nicht davon überzeugen, noch ein Jahr anzuhängen, wodurch Brock Purdy seinen Stammplatz behielt.
Von der Verletzung war schon zu Saisonbeginn nichts mehr zu sehen, er spielte eine beeindruckende Saison und bewahrte auch in den entscheidenden Momenten seine Gelassenheit. Er entwickelte sich zu einem Anführer, der die Schuld für schwache Leistungen stets bei sich sucht. «Manchmal denke ich, dass er zu hart mit sich selbst ins Gericht geht», sagt Trainer Kyle Shanahan. Bisher konnte Purdy danach aber immer eine Reaktion zeigen.
Wie vor zwei Wochen im Playoff-Halbfinal gegen Detroit. Nachdem er in der ersten Halbzeit eine seiner schwächsten Leistungen gezeigt hatte, lag sein Team mit 17 Punkten in Rückstand. Dann drehte Purdy aber auf und stellte unter Beweis, dass er das Team zum Erfolg führen kann und nicht ausschliesslich auf McCaffrey, Samuel und Co. angewiesen ist.
Besonders überraschend war für viele das Laufspiel, das Purdy bisher erst selten gezeigt hat. Fünfmal vertraute er auf seine Füsse und erreichte damit 48 Yards Raumgewinn. Mehrmals hielt er damit den aktuellen Drive am Leben und sorgte so erst dafür, dass San Francisco den Rückstand noch zu einem Sieg wenden konnte und Purdy somit als drittjüngster Quarterback der NFL-Geschichte im Super Bowl steht.
Brock Purdy keeps on doing damage with his legs!
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Dort trifft er auf einen Quarterback, bei dem kein Zweifel daran besteht, dass er zu den Besten seines Fachs gehört. Nachdem er es im sechsten Jahr als Stamm-Quarterback zum vierten Mal in den Super Bowl geschafft hat, ist er nun endgültig Bestandteil der Konversation, wer denn nun der GOAT ist. Gewinnt er 28-jährig schon seinen dritten Titel, holt er im Duell mit Tom Brady immer mehr Leute auf seine Seite.
Purdy ist hingegen erst am Anfang seiner Geschichte. Führt er San Francisco mit einer starken Leistung zum Titelgewinn, kann aber auch er immer mehr Leute immerhin davon überzeugen, dass er eben doch hierhin gehört und nicht einfach das Glück hatte, in einem starken Team gelandet zu sein.
Doch selbst dann wird es immer noch Zweifler geben, wie Sportpsychologe Daniel Wann zu ESPN sagt: «Man kann die öffentliche Meinung mit Titeln und MVP-Auszeichnungen beeinflussen. Aber kann man sie komplett verändern? Wahrscheinlich nicht.»
Brock Purdy dürfte dies dann aber immer noch – oder erst recht – völlig egal sein.