Dies ist die Geschichte eines Biathleten, der oft verletzt war, deshalb oft auf dem Velo trainierte, Talent bemerkte, Freude verspürte und schliesslich die Sportart wechselte. Dies ist die Geschichte von Florian Lipowitz, 24 Jahre alt, auf der Schwäbischen Alb aufgewachsen.
Lipowitz wurde vor dem Start dieser Tour de France als heisse Aktie gehandelt. Manch einer fragte sich, ob es im finanzstarken Team Red Bull-Bora-Hansgrohe zum Kapitänswechsel kommt: vom erfahrenen, aber an der Tour oft glücklosen Primoz Roglic (35), dem Gesamtzweiten 2020, hin zu Lipowitz.
Nun sind 17 Etappen absolviert und bloss noch vier ausstehend – und Lipowitz belegt in der Gesamtwertung Rang 3. Zudem trägt er das Weisse Trikot, das den besten Jungprofi kennzeichnet. Sein Rückstand auf Leader Tadej Pogacar ist mit neun Minuten zwar riesig, sein Vorsprung auf den viertplatzierten Schotten Oscar Onley aber mit zwei Minuten ebenfalls einigermassen komfortabel, nun, da es in die Alpen geht.
Florian Lipowitz war in seinem ersten Sportlerleben ein Biathlet. Er wurde in der Schüler-Kategorie Deutscher Meister, war im Nationalkader und zog deshalb im Alter von 15 Jahren mit den Eltern und dem Bruder nach Österreich. Dort arbeitete er im renommierten Ski-Internat Stams daran, im Zweikampf aus Langlauf und Schiessen Weltklasse zu werden.
Daraus wurde nichts. Als sein Bruder Philipp 2021 Junioren-Weltmeister im Biathlon wurde, setzte Florian Lipowitz bereits auf den Radsport. Im Grundlagentraining im Sommer war er auf den Geschmack gekommen; zudem liessen Verletzungen, darunter ein Kreuzbandriss, kaum anderes Training zu.
Lipowitz machte 2019 mit Siegen bei Rennen für ambitionierte Hobbyfahrer auf sich aufmerksam, bekam deshalb vom international drittklassigen Team Tirol KTM Cycling eine Chance. Die World-Tour-Mannschaft Bora-Hansgrohe wurde auf das Juwel aufmerksam, gab ihm nach einer «Probezeit» im Herbst 2022 einen Profivertrag und liess es reifen.
In seiner ersten Saison wurde Florian Lipowitz vorwiegend bei kleineren Rennen eingesetzt. Der Gesamtsieg der vier Etappen umfassenden Tschechien-Rundfahrt war sein erster grosser Erfolg.
Ausserhalb der Szene blieb er unbeachtet. Schon für mehr Aufsehen sorgte seine Leistung an der Tour de Romandie 2024. Lipowitz wurde Dritter und ihm gelangen eine Reihe weiterer guter Resultate. An der deutschen Meisterschaft wurde er Zweiter, danach gewann er die Sibiu Tour, ein eher kleineres Rennen in Rumänien, ehe er auf höchster Stufe ein erstes Mal gross auftrumpfte.
Beim Vuelta-Triumph von Roglic schaffte es Lipowitz als Helfer auf Rang 7 der Gesamtwertung. Dabei hatte ihn das Team nach Spanien geschickt, damit er dort lernen und Erfahrungen sammeln kann. «Doch dann fuhr er sensationell gut», freute sich Teamchef Ralph Denk.
Spätestens da begann Radsport-Deutschland zu träumen. 1997 hatte Jan Ullrich mit 23 Jahren als erster und bislang einziger Deutscher die Tour de France gewonnen. Alle seither zu seinem Nachfolger ausgerufenen Talente scheiterten daran, diesen Erfolg zu wiederholen. Sollte Florian Lipowitz es besser machen?
Die Saison begann fabelhaft. Bei der Fernfahrt Paris – Nizza belegte Lipowitz nach mehreren starken Etappen Rang 2. Auch beim Critérium du Dauphiné, das oft als Hauptprobe für die Tour de France bezeichnet wird, stand er auf dem Podest, als Dritter hinter Tadej Pogacar und Jonas Vingegaard. In dieser Reihenfolge sind die drei auch jetzt an der Tour die Besten.
Doch Hauptprobe und Ernstkampf sind zwei Paar Schuhe. Für Lipowitz ist es die erste Teilnahme an der Tour de France, die, wie jeder Radprofi sagt, eine andere Dimension hat als alle anderen Rennen. «Ich ahnte, dass ich auch bei der Tour gut sein könnte, wenn ich hier dieselben Beine haben würde wie bei der Dauphiné», sagte Lipowitz dem ZDF. Dass er aber so gut sein würde, überrasche ihn selbst.
Jan Ullrich ist überzeugt, dass Roglic dem Youngster nun helfen wird. In den Alpen könne die Erfahrung Gold wert sein, sagte er bei «Eurosport». Denn nun geht es ans Eingemachte. Heute und morgen Freitag stehen zwei harte Etappen mit vielen Höhenmetern und zwei Bergankünften auf dem Programm.
Diese zwei Etappen entscheiden aller Voraussicht nach darüber, ob Florian Lipowitz am Sonntag in Paris vom Siegerpodest der Tour de France winken wird. Und der Hype um ihn in Deutschland damit erst richtig losgehen wird.