Es geschah im Juli 2022 im viel zitierten Zauberwald, auf einem Streckenabschnitt fernab der Kameras. Nino Schurter ging als Führender in die Schlussphase des Rennens, dicht im Nacken sass ihm Mathias Flückiger, dahinter klaffte eine Lücke. Augenblicke später jubelte der Italiener Luca Braidot über seinen ersten Weltcupsieg. Flückiger erreichte das Ziel als Dritter, Schurter als Vierter, wild fluchend und gestikulierend. Weil die beiden Schweizer im Zauberwald kollidierten.
Was war passiert? Auch ein Jahr nach der Eskalation in der Rivalität zwischen Schurter und Flückiger steht Aussage gegen Aussage. Flückiger habe ihn an einer unmöglichen Stelle «abgeräumt», monierte Schurter im Nachgang, eine Revanche Flückigers für sein gewagtes Gold-Manöver an der WM 2021 witternd. «Man muss dort überholen, wo es auch möglich ist. Dort, wo 'Math' es versucht hat, ging es nicht. Er hat mich einfach abgeschossen, lag auf mir drauf. Das war definitiv 'too much'. Ich kann es nicht verstehen.»
Flückiger taxierte die Szene dagegen als «normalen Zweikampf wie immer» - als normales Duell, bei dem er aber anders als in früheren Jahren mehr Bereitschaft zeigte, die Ellbogen auszufahren, wie er einräumte. «Früher habe ich in den Duellen eher einmal zu oft nachgegeben. Dieses Mal war es anders.» Trotzdem gebe es keinen Grund zum 'Grännen', fand der Berner. «An der WM 2021 hat mich Nino gelehrt, wie man überholt und wie man frech fahren darf. Jetzt war es umgekehrt. Ich verstehe seine Wut nicht. Er hat die Ellbogen auch schon öfter hingehalten.»
Das Rencontre offenbarte eine neue Schärfe in der Rivalität zwischen den beiden Schweizer Weltklasse-Athleten. Elf Monate sind seither vergangen, nach wie vor herrscht Funkstille zwischen den beiden. Vielleicht auch, weil sich ihre Wege nur noch selten kreuzten. Was insbesondere damit zu tun hat, dass Flückiger anderthalb Monate nach dem Zwischenfall in Lenzerheide aufgrund eines «Atypical Finding» in einer Dopingprobe aus dem Verkehr gezogen wurde und vorübergehend komplett weg vom Fenster war. In einer Urinprobe wurden geringe Spuren der verbotenen Substanz Zeranol nachgewiesen, eines aus der Viehzucht bekannten und in der Sportwelt nicht verbreiteten Anabolikums.
Während Schurter nach einer Baisse in der Pandemie-Phase wieder ganz vorne mitmischte, nach fast dreijährigem Warten den prestigeträchtigen 33. Weltcupsieg einfuhr, den zehnten WM-Titel und einen weiteren Gesamtweltcup errang, fiel Flückiger in ein tiefes Loch. Der (ungerechtfertigte?) Stempel des Dopers setzte ihm zu. Als er von der positiven Probe erfuhr, erlitt der Olympia-Zweite so etwas wie einen Nervenzusammenbruch. Er brauchte professionelle Hilfe. Er getraute sich eine Zeit lang kaum mehr aus dem Haus, geschweige denn in die Öffentlichkeit.
«Am 18. August 2022 stand ich eine Stufe vor dem Abgrund. Alle meine Werte, nach denen ich mein ganzes Leben gelebt habe, wurden von einer auf die andere Sekunde infrage gestellt. Man hat mir einfach nicht mehr geglaubt. Ich hatte immer ein reines Gewissen, aber die Leute haben mir nicht mehr geglaubt. Jeder negative Kommentar hat mich fast zerfressen. Das waren mit Abstand die schlimmsten fünf Monate meines Lebens», schilderte Flückiger vor drei Monaten, nachdem die provisorische Sperre aufgrund der geringen nachgewiesenen Menge aufgehoben worden war und er wieder Rennen bestreiten durfte. Der Fall liegt seither wieder bei der Swiss Sports Integrity (SSI), ist also noch nicht abgeschlossen. Flückiger feierte bereits wieder Erfolge in der nationalen Bike-Serie und an Schweizer Meisterschaften.
Auf der Lenzerheide gehören Schurter und Flückiger wieder zu den Siegesanwärtern. Am Sonntag steigt das Hauptrennen, Lust auf den Sieg haben beide. Für Schurter wäre es der 34. Weltcupsieg, mit dem er zum alleinigen Rekordhalter vor dem Franzosen Julien Absalon würde, für Flückiger der erste im Weltcup nach der Doping-Affäre. Interesse an einem erneuten Eklat hat keiner der beiden. (abu/sda)