Am Sonntag in einer Woche beginnt die Tour de Suisse in Vaduz mit einem Zeitfahren. Eine spektakuläre Bergankunft auf dem Gotthard, drei Etappen in der bevölkerungsreichen Grossregion Zürich, Stationen in allen Landesteilen und Fahrerinnen und Fahrer wie der Brite Tom Pidcock und der Vorjahressieger Mattias Skjelmose oder die Schweizer Vorjahressiegerin Marlen Reusser machen das diesjährige Programm attraktiv.
Spielt das Wetter mit, dürfte es eine spektakuläre Radsportwoche werden. Doch die letztjährige Ausgabe wirft noch immer ihren Schatten auf die Tour de Suisse. Grund dafür ist der tödliche Sturz des jungen Schweizer Fahrers Gino Mäder, der mit der Startnummer 44 für das Team Bahrain Victorious fuhr.
Während der Königsetappe von Fiesch VS nach La Punt GR kam der 26-Jährige auf der Abfahrt von der Albulapasshöhe in einer Linkskurve von der Strasse ab. Kurz vor der Kurve dürfte er mit einer Geschwindigkeit von rund 85 Kilometern pro Stunde unterwegs gewesen sein. Er stürzte über einen Abhang in ein steiniges Bachbett und erlitt beim Aufprall schwerste Kopfverletzungen. Tags darauf starb er im Kantonsspital Chur.
Kurz nach dem Sturz begann bereits die Diskussion um die Sicherheit der Fahrer. Kaum im Ziel sagte der damalige Strassenweltmeister Remco Evenepoel: «Es war keine gute Idee, das Ziel einer solchen Etappe nach einer Abfahrt zu platzieren. Aber man braucht natürlich trotzdem mehr Spektakel. Es muss einfach etwas passieren, damit man reagiert.»
Evenepoel war Zeuge eines zweiten Unfalls gewesen, der sich an der exakt gleichen Stelle ereignete. Der norwegisch-amerikanische Fahrer Magnus Sheffield aus dem Team Ineos Grenadiers stürzte nur Minuten vor Mäder.
Zieleinfahrten nach Abfahrten, wie sie Evenepoel kritisierte, sind im Radsport üblich und sind nach Mäders tödlichem Sturz auch nicht aus dem Rennkalender verschwunden. Auch die Tour de Suisse schliesst nicht aus, künftig wieder eine solche Strecke ins Programm zu nehmen. In diesem Jahr ist aber keine geplant. «Natürlich haben wir nicht gleich wieder eine Etappe geplant mit einer Abfahrt vor dem Ziel. Der Tod von Gino Mäder hat unser Bewusstsein dafür geschärft, wie gefährlich der Radsport sein kann», sagt Tour-de-Suisse-Chef Oliver Senn im offiziellen Tour-de-Suisse-Magazin Gruppetto.
Nach den Stürzen von Sheffield und Mäder rätselten viele aus der Radsportszene, warum der Unfall gerade an dieser Stelle mit dem Namen Chaunt da la Cruschetta (Anstieg des Kreuzlabkrautes) passierte. Andere Kurven galten als gefährlicher und wurden mit Streckenposten gesichert, die die Fahrer warnten.
Recherchen dieser Zeitung haben später gezeigt, dass die Unfallkurve gefährlicher war als bekannt. An der gleichen Stelle, wo Mäder und Sheffield stürzten, ereignete sich zwei Jahre zuvor ein beinahe identischer Unfall. Während des Amateurrennens Alpen-Challenge-Lenzerheide geriet Teilnehmer Harry Nussbaumer rechts von der Strasse ab und stürzte rund 30 Meter den Hang hinunter. Er brach sich fünf Hals- und zwei Rückenwirbel und wurde mit einem Helikopter der Rettungsflugwacht Rega ins Kantonsspital Chur geflogen.
Er erholte sich später vom Unfall und fährt heute wieder Amateurrennen. Dass sein Sturz nicht schlimmer herauskam, erklärt sich Nussbaumer mit dem Restschnee, der seinen Aufprall dämpfte. Im letzten Juni lag hingegen kaum mehr Schnee auf dem Albula.
Unfalldaten zeigten zudem: Die Kurve ist die gefährlichste der ganzen Abfahrt. An keiner anderen Stelle der Strasse hinunter nach La Punt gab es im Jahrzehnt vor Mäders Unfall mehr Schwerverletzte. Zwischen 2016 und 2022 verunfallten dort drei Töfffahrer. Zwei verletzten sich schwer, einer leicht. Am 27. Juli 2022 kam ein Autounfall mit Blechschaden hinzu.
Dem Kanton Graubünden war die Unfallstelle schon vor Mäders Sturz aufgefallen, eine Analyse vor Ort war geplant, aber wegen der vergleichsweise niedrigen Zahl der Ereignisse nicht priorisiert worden. Die Kurve ist im Vergleich zu anderen kaum gesichert. Nur Mittelstreifen zeigen den Verlauf an. Aussenlinien oder schwarz-weisse Dreiecke, die an anderen Stellen Richtungswechsel anzeigen, fehlen.
Mittlerweile hat ein externer Anbieter im Auftrag des Kantons vor Ort die Strassensicherheit untersucht. Zurzeit ist der Albulapass noch in der Wintersperre. «Sobald der Pass offen ist, werden wir die Ergebnisse der Analyse vor Ort auf deren Umsetzbarkeit prüfen», heisst es auf Anfrage aus dem Tiefbauamt des Kantons Graubünden. Zu den Ergebnissen der Analyse hält sich die Behörde bedeckt.
Bei allen fünf genannten Unfällen verlor die Person am Steuer oder hinter dem Lenker ohne Fremdeinwirkung die Kontrolle über das Fahrzeug, als sie talwärts fuhr. Eine Untersuchung der Staatsanwaltschaft des Kantons Graubünden fand später auch bei den Unfällen von Mäder und Sheffield keine Fremdeinwirkung. Ein strafrechtlich relevantes Fehlverhalten der zuständigen Organisatoren ergaben die Ermittlungen ebenfalls nicht. Das Verfahren wurde eingestellt. Wie es genau zu den Stürzen kam, ist immer noch ungeklärt.
Die Organisatoren hatten damals die Unfallstatistik nicht in ihre Planung einbezogen, und auch vom Rennunfall im Amateurrennen wussten sie nicht. Bei den Hunderten Kilometern Rennstrecke und der grossen Anzahl Kurven wäre eine genaue Analyse jeder Passage auch ein kaum zu bewältigender Aufwand gewesen.
Doch die Tour-de-Suisse-Organisation zog aus dem Unfall ihre Schlüsse. «Wir schauen zusammen mit den Kantonspolizeien heikle Stellen genauer an, und wir werden einzelne Kurven noch deutlicher signalisieren», sagt Senn im Interview. Auch ein dritter Rennarzt wird im Einsatz stehen. Innerhalb der Rennorganisation wird die Sicherheit zudem in einem eigenen Bereich zusammengeführt, der dem Sportdirektor David Loosli unterstellt ist.
Im Interview mit CH Media sagt Senn, die Tour de Suisse tue das Maximum für die Sicherheit der Fahrer. Und er nimmt Fahrer und die Sportlichen Leiter in die Verantwortung. Vor allem das Verhalten der Coaches in den Begleitfahrzeugen kritisiert er deutlich.
Die tragisch endende Etappe hatte am 15. Juni 2023 mit einer Schweigeminute begonnen für den letzten Fahrer, der an der Tour de Suisse starb. Der belgische Rennfahrer Richard Depoorter stürzte im Jahr 1948 im Alter von 33 Jahren in einem dunklen Strassentunnel bei der Abfahrt vom Sustenpass nach Wassen, wurde vom eigenen Begleitfahrzeug überfahren und war sofort tot.
Vor dem Start der diesjährigen Tour wird es keine Schweigeminute für Gino Mäder geben. «Natürlich war das eine Idee, die uns auch gekommen war. Aber im Gespräch mit der Familie wurde sehr schnell klar, dass sie das nicht will. Das respektieren wir selbstverständlich», sagt Senn, der seit dem Unfall mit Mäders Angehörigen in Kontakt steht. «Für Ginos Familie war es wichtig, dass wir nicht trauern, sondern dass wir positiv bleiben», sagt Senn im Interview mit CH Media.
Im Gedenken an Gino findet am 16. Juni ein Ride von Aigle nach Villars-sur-Ollon statt🚴♀️Mehr Infos und Anmeldung➡️ https://t.co/plUECH9yBh
— Tour de Suisse (@tds) May 19, 2024
.#tourdesuisse #rideforgino pic.twitter.com/KLQZaIS1EW
Stattdessen wird der höchste Bergpreis der Landesrundfahrt der Stiftung «#RideforGino» gewidmet. Mäder hatte als Veloprofi Geld für Umweltschutzprojekte gesammelt. Familie und Freunde führen dieses Engagement nun weiter. Auch auf den Leader-Trikots wird der Slogan der Stiftung aufgedruckt.
An Mäders Todestag, dem 16. Juni, findet eine Gedenkfahrt statt. Sie startet um 12 Uhr in Aigle und führt über die Strecke des Bergzeitfahrens, das an diesem Tag sowohl die Frauen als auch die Männer absolvieren.
Es ist die dritte Gedenkfahrt für Mäder, die unter anderen durch seine Angehörigen organisiert werden. Schon am 24. Juni 2023 fuhren Tausende Profis und Amateure gemeinsam vom Gelände der Schweizer Meisterschaften in Wetzikon zur Offenen Rennbahn Oerlikon. Eine weitere Gedenkfahrt führte am 8. Oktober rund um den Zürichsee.
Mäders Familie, der Verband Swiss Cycling und das Tiefbauamt des Kantons Graubünden stehen im Austausch über eine Gedenkstätte in der Nähe des Unfallorts. Sobald der Pass aufgeht, dürften die Fans in der Kurve ohnehin wieder Blumen, Trinkflaschen und Fotos aufstellen.
Die Startnummer von Gino Mäder, die Nummer 44, wird die Tour de Suisse künftig niemandem mehr vergeben. Sie soll für immer an ihn erinnern.