Mit dem Velo von der West- an die Ostküste der USA. Knapp 5000 Kilometer sowie über 53'000 Höhenmeter werden in gut einer Woche zurückgelegt. Geschlafen wird kaum mehr als zwei Stunden pro Tag. Das Race Across America (RAAM) verlangt das absolute Maximum des menschlichen Körpers ab und gilt als das härteste Velorennen der Welt.
Am Dienstag, kurz nach 22 Uhr Schweizer Zeit, startete an der kalifornischen Sonne die bereits 41. Austragung des prestigeträchtigen Rennens. Mit dabei nach vierjähriger Absenz: die Bernerin Isa Pulver. 2015 hatte sie das RAAM gewonnen, 2019 wurde sie Dritte.
Dass die Europameisterin, Vizeweltmeisterin und Weltrekordhalterin im 24-Stunden-Format dieses Jahr an den Start geht, ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Vor gut einem Jahr erlitt die 52-Jährige eine Hirnblutung.
«Das hat mich ziemlich wachgerüttelt. Es zeigt auf: Es kann jeden treffen», gab Pulver vor der Abreise nach Amerika zu Protokoll. Sie war mit dem Velo auf der Heimfahrt von der Arbeit, als plötzlich massives Kopfweh einsetzte. Dank des schnellen Eingreifens ihres Ehemannes und Trainers Daniel sowie der grossartigen Betreuung ihrer Ärzte blieb die Hirnblutung ohne Folgen. Die Vorbereitung wurde auch deswegen auf dieses Jahr angepasst, die Daten werden nach jedem Training ausgewertet.
Von den Ärzten und Experten wurde indes kein Zusammenhang zwischen der Hirnblutung und ihrer Tätigkeit als Ultracyclistin festgestellt. Das half bei der Aufarbeitung des Ganzen. Das Leben nimmt Pulver nun bewusster wahr. «Dass ich ein zweites Leben geschenkt bekommen habe, ist eine Tatsache. Ich schätze die Dinge sicher mehr.»
Der Vorfall mit der Hirnblutung ereignete sich im März 2022. Sieben Wochen später stand sie bereits wieder am Start eines Rennens, nämlich am Race Across Italy. Sobald Kopfschmerzen aufgetreten wären, hätte sie sofort aufgehört, «so wichtig ist mir die Gesundheit schon noch». Doch Pulver ging mit einem völlig freien Kopf ins Rennen, «flog» beinahe über Italien und stellte eine hervorragende Zeit auf. «Ich freute mich einfach nur, Velo fahren zu können. Plötzlich war das alles andere als selbstverständlich.»
Inzwischen ist der Vorfall für Pulver weit weg, der Fokus gilt voll und ganz dem RAAM. Mitte Dezember begann die konkrete Vorbereitung auf das wichtigste Rennen des Kalenders. Im Winter stand vor allem der Kraftaufbau im Vordergrund, im späteren Verlauf wurde der Schwerpunkt mehrheitlich aufs Velofahren gelegt. Knapp zwei Wochen vor Rennstart in der kalifornischen Stadt Oceanside reiste Pulver nach Palm Springs, um sich an die Umstände, insbesondere die Hitze, gewöhnen zu können.
In Oceanside stiess vor wenigen Tagen auch die neunköpfige Equipe dazu, welche sie während des Rennens unterstützt. Die Übergaben und das Handling mit dem Velo, Auto, und dem Wohnmobil sowie eine letzte Besprechung bezüglich den Schlafpausen wurde vorgenommen. Die Ultracyclisten schlafen am RAAM in der Regel nicht mehr als zwei Stunden pro Tag, um möglichst wenig Zeit zu verlieren.
Bis ins letzte Detail kann das Rennen aber nicht durchgeplant werden. Eine grosse Portion Flexibilität ist gefragt. «Wo du die Pausen machst, ist von so vielen Sachen abhängig. In den Bergen musst du beispielsweise darauf achten, dass du nicht gerade auf 10'000 Metern schläfst.» Gerade bei der Schlafthematik ist sie auch auf das Fingerspitzengefühl des Teams angewiesen: «Wenn mich beispielsweise das Team nach 18 Stunden Velofahren nicht wach bringt nach der vorausgeplanten Zeit, dann muss man auch einfach mal sagen: Jetzt lassen wir sie schlafen und reduzieren dafür an einem anderen Ort ein wenig.»
Der Weg zur Ultracyclistin war bei Isa Pulver nicht von klein auf geebnet. Als Jugendliche bestritt sie wettkampfmässig Skirennen und versuchte sich auch in der Leichtathletik. Mit Mitte zwanzig entdeckte sie beim Reisen die Liebe fürs Velofahren. Doch die Zuneigung zum Extremsport fand die gebürtige Wetzikerin erst über ihren Job.
Pulver arbeitet als Physiotherapeutin bei der Stiftung Rossfeld in Bern, einer Institution für Menschen mit einer körperlichen Beeinträchtigung. Beim Umgang mit ihren Patienten erlebt sie hautnah mit, was es heisst, wenn Menschen mit Limiten konfrontiert sind. In diesem Prozess stellte sie sich selbst folgende Fragen: «Wo sind eigentlich meine Limiten? Was unterstützt mich, an meine Limiten zu gehen? Kenne ich diese überhaupt?» So wurde das Ultracycling zum Thema, inzwischen ist sie seit mehr als zehn Jahren in der Szene tätig.
Eine Motivationsspritze während der Rennen stellt für Pulver der Support aus der Schweiz dar. In einem Whatsapp-Chat können verschiedenste Personen motivierende Botschaften hinterlassen. Das werde ihr gerade in schwierigen Phasen vorgelesen und helfe auch, den Schalter wieder umzulegen. Ein Ende ihrer Ultracycling-Karriere ist für Pulver noch nicht in Sicht. «Sobald der Spass und Reiz verloren geht, würde ich sofort aufhören. Aber ich habe das Kribbeln weiterhin!»