Radrundfahrten haben sehr viel mit Taktik zu tun, viel mehr, als das ein Noch-Nicht-Fan vermutet. Die folgenden Fragen wurden mir so oder ähnlich gestellt, wenn im Büro die Tour de France läuft.
Beim Fussball würde die Frage so lauten: Wieso wird einer Goalie, wenn er weiss, dass er dann keine Tore schiessen wird? Die Antwort auf beide Fragen lautet: Weil es ihn trotzdem braucht.
Denn Radsport ist wie der Fussball eine Mannschaftssportart. Das erschliesst sich nicht automatisch, weil am Ende kein Team gefeiert wird, sondern ein einzelner Athlet. Aber häufig kann dieser nur deshalb gewinnen, weil seine Kollegen für ihn arbeiten. Sie holen für ihn Getränke aus dem Auto (daher der Ausdruck «Wasserträger» für diese Helfer). Sie geben ihm Windschatten, damit er Kraft sparen kann. Sie verausgaben sich, um aus dem Feld ausgerissene Fahrer wieder einzuholen. Sie geben ihre eigenen Siegchancen her, damit vielleicht ihr Teamkollege jubeln kann.
Auf Nachwuchsebene hat fast jeder Profi seine Gegner in Grund und Boden gefahren. Um dann festzustellen, dass es auf der höchsten Ebene nicht mehr so einfach ist. Jede Pyramide spitzt sich gegen oben hin zu.
Die grossen Teams bezahlen ihre Helfer wie die kleineren ihre Captains – weil sie um deren Bedeutung wissen. Und die Helfer erhalten in der Regel an einigen Rennen die Gelegenheit, auch einmal auf eigene Rechnung zu fahren. So haben auch sie die Gelegenheit, um auf den eingangs erwähnten Fussball-vergleich zurückzukommen, einmal ein Tor schiessen.
Die Frage kam nach Konsultation dieser Vorschau auf die Tour de France 2021 auf. Dort wurde klar, dass die sechs Schweizer am Start mehr oder weniger durchs Band mit Helferaufgaben beschäftigt sein werden.
Die Schweizer haben durchaus Ambitionen – aber halt primär solche, die ihrem Arbeitgeber dienen. Was der Chef befiehlt, wird gemacht. Marc Hirschi, im letzten Jahr Shooting-Star, war deshalb von Anfang an klar als Helfer von Vorjahressieger Tadej Pogacar vorgesehen. Die Titelverteidigung steht für das Team über allem – logischerweise, der Gesamtsieg ist das Wichtigste überhaupt an der Tour de France.
Die guten Zeitfahrer Stefan Bissegger und Stefan Küng dürfen ihre Ambitionen in ihrer Spezialdisziplin ausleben. Bissegger hatte Pech, weil es während seiner Fahrt regnete. Küng hingegen zeigte ein starkes Zeitfahren, als Zweiter wurde er nur von Überflieger Pogacar geschlagen.
Die flapsige Antwort lautet: Weil man nur gewinnen kann, wenn man es überhaupt versucht. Doch bei einer Rundfahrt gibt es immer mehrere «Rennen» im Rennen. Es kann beispielsweise darum gehen:
Dass jede Equipe – an der Tour de France sind 23 Teams dabei – ihre eigenen Ziele für die Etappe hat, sorgt oft für Spannung. Die ausgetüftelte Taktik muss über den Haufen geworfen und auf das Verhalten der Gegner reagiert werden. Oder auf einen Sturz: Gerade bei der Ausgabe 2021 fielen schon zahlreiche Mitfavoriten wegen Blessuren aus dem Rennen um den Gesamtsieg. Für deren Teams sind neue Ziele und Taktiken vonnöten.
Das übergeordnete Ziel, das bei der Tour de France ins Visier genommen wird, steht oft schon Monate vorher fest. Der Leader ist definiert, seine stärksten Helfer auch. In den Rennen bis zur Tour geht es darum, die bestmögliche Mannschaft zusammenzustellen, um die Ziele zu erreichen. Jede Equipe beschäftigt um die 30 Profis – nur acht dürfen an der Tour starten.
Während der Rundfahrt wird in der Regel am Abend nach einer Etappe der Schlachtplan für das folgende Tagesstück ausgearbeitet. Vor der Etappe wird die Taktik den Athleten eröffnet, häufig im Car, der die Funktion der Kabine anderer Mannschafts-Sportarten hat. Welcher Fahrer soll mit welcher Aufgabe ins Rennen? Muss ein Leadertrikot verteidigt werden? Soll versucht werden, die Etappe zu gewinnen?
🚌Ⓜ️ ¿Os apetece echar un vistazo a nuestro autobús? @PatxiVila se ha pasado por los vehículos en nuestra sede de Pamplona y os trae, en dos minutos, un repaso a cómo es por dentro #SeguimosConectados
— Movistar Team (@Movistar_Team) May 26, 2020
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Während des Rennens sind die Fahrer mittels Funk mit dem sportlichen Leiter im Teamauto verbunden. Erlaubt es die Rennsituation, wird auch direkt durchs Autofenster gesprochen – etwa, wenn der Fahrer sich in einer Fluchtgruppe befindet. Muss unterwegs rasch entschieden werden, hilft die Einschätzung vom «Capitaine de Route». Dieser in der Regel erfahrene Profi ist gewissermassen der verlängerte Arm des sportlichen Leiters. Er kann Rennen und Gegner gut lesen und spürt, was gleich passieren könnte. Instinktfahrern wie Marc Hirschi gelingt es auch ohne Routine, im richtigen Moment anzugreifen.
Nein. Geht es bei einer dreiwöchigen Rundfahrt wie der Tour de France immer auch um das Einteilen seiner Kräfte, steht bei Klassikern wie Paris-Roubaix oder der Flandern-Rundfahrt einzig der Tagessieg im Fokus. Hat bei der Tour auch ein zweitklassiger Fahrer eine Chance, am richtigen Tag eine Etappe gewinnen zu können, so sind die Eintages-Rennen in der Regel etwas für die allerstärksten Fahrer. Die pure Klasse entscheidet viel eher als bei der Tour über den Sieg.
Weil sie auch spannend sein können. Gerade in der Anfangsphase einer Etappe, in der es viele Attacken gibt, bis das Feld mit der Zusammensetzung einer Fluchtgruppe zufrieden ist und ihr Vorausfahrt gewährt. Gegen Ende hin kann die Spannung darin bestehen, mit Ausreissern mitzufiebern, in der Hoffnung, dass sie den Sprintern ein Schnippchen schlagen und sich nicht mehr einholen lassen. Manchmal droht die Gefahr von Windkanten – das ist dann ein Gaudi als Zuschauer! Für die Fahrer ist es der Horror.
Dazwischen, so ehrlich muss man sein, gibt es auch langweiligere Phasen. Aber während ein Skirennen immer gleich aussieht, von der Startnummer 1 bis zur chancenlosen Startnummer 67, bewegt sich ein Velorennen immer vorwärts, durch manchmal atemberaubend schöne Landschaften. Ideal, um auf dem «Second Screen» neue Ferienpläne zu schmieden.
Nur drei Mal ist bei dieser Tour de France das Ziel am Ende einer langen Steigung. Der Parcours ist jedes Jahr anders, dafür gibt es 2021 zwei eher flache Zeitfahren.
Mit einem Parcours, der den Stärken möglichst vielen Fahrern entgegenkommt, hoffen die Organisatoren auf Spannung in der Gesamtwertung. Die ist wegen zahlreicher Stürze und dem unantastbar scheinenden Titelverteidiger Tadej Pogacar allerdings bereits etwas raus.
Weil es das wichtigste Rennen des Jahres ist. Hier müssen Siege her, dann bleibt der Sponsor an Bord, dann gibt es das Team und den Arbeitsplatz auch im nächsten Jahr noch. Entsprechend gross ist die Hektik, gerade in den ersten Tagen der Tour, wo sich noch viele Teams Hoffnung auf das Maillot Jaune, das gelbe Leadertrikot, machen dürfen oder Hoffnung auf einen Etappensieg, weil die Beine des Topsprinters noch frisch sind.
Vorne fahren wollen aber auch all jene Teams, deren Captain in Paris auf dem Podest stehen soll. Schliesslich ist ein Zeitverlust auf einer Flachetappe zu Beginn der Tour ärgerlich – lieber nimmt man einige Sekunden Vorsprung mit, ehe es in die Berge geht.
Und durch diese Hektik kommt es häufig zu Stürzen, weil es zuvorderst selbst dann nur für wenige Platz hat, wenn eigentlich fast alle dort fahren wollen. Gefahren wird Lenker an Lenker und nur Zentimeter hinter dem Vordermann. Eine kleine Unachtsamkeit reicht schon, und ein Dutzend Fahrer oder noch mehr knallen auf den Asphalt oder landen, wie Marc Hirschi, in einem Gebüsch.
Die kleine Unachtsamkeit eines Fahrers – manchmal kann man schlicht nichts für seinen eigenen Sturz – kann fatale Folgen haben. Der Vorjahreszweite Primoz Roglic etwa schuftete monatelang für den Traum, in diesem Jahr zu gewinnen. Dann stürzte er, auf einem Bild von ihm sah man beinahe mehr Pflaster als Haut, am Sonntag schliesslich gab er die Tour de France auf.
Das muss man jeden Fahrer selber fragen, aber falls er verbotene Mittel einnimmt, wird er es nicht sagen. Also könnte höchstens gemutmasst werden. Wir halten uns an die Unschuldsvermutung: Solange ein Fahrer nicht überführt worden ist, gilt er als sauber.
In speziell definierten Zonen, wo weggeworfene Bidons, Gel- und Riegelverpackungen nach dem Rennen aufgelesen werden. Der Abfall kann auch im Teamauto abgegeben werden. Der Rad-Weltverband UCI führte diese Zonen ein, damit die Landschaft nach einer Etappe nicht mehr aussieht wie eine Müllkippe.
Aus Sicherheitsgründen und um die Fahrer betreuen zu können. Bei der Tour de Suisse etwa fährt ein Konvoi von Polizisten auf Töffs, um fortlaufend die Strecke zu sichern. Sie stellen sich an Kreuzungen auf, um Autos aufzuhalten, oder vor Verkehrs-Inseln, um die Fahrer davor zu warnen. Sind alle Rennfahrer durch, braust der Töff wieder an die Spitze des Rennens, um eine neue Aufgabe zu erfüllen.
Andere Töffs sind solche mit Kameramännern für die Fernsehproduktion, solche für Fotografen oder für Rennkommissäre. Diese Schiedsrichter sind auch in Autos unterwegs. In Autos folgen zudem die sportlichen Leiter und Mechaniker aller Teams den Fahrern. Bei einem Defekt helfen sie, sie verpflegen unterwegs, hören den Tour-Funk und beschliessen taktische Änderungen.
Rund eine Stunde vor dem Rennen verteilt der Begleittross den wartenden Zuschauern kleine Geschenke. Und zuhinterst markiert der Besenwagen das Ende des Trosses. Das ist seine Hauptfunktion, die ursprüngliche, dass er Rennfahrer nach einer Aufgabe ins Ziel fährt, übernehmen heute meist die Teams. Eingeführt wurde der Besenwagen zu einer Zeit, als Fahrer noch Einzelkämpfer waren und kein Team im Rücken hatten.
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Es ist so: Je mehr du in der Materie drin bist, je mehr du Rennen live in der Glotze schaust und je mehr Wissen du anhäufst, desto mehr faszinieren dich Velorennen.
Wie Ralf es sagst. Da laufen immer mehrere Rennen im Rennen.
Meine Lieblingsrennen: Windkanntenrennen.
Habe den Artikel allen aufgenötigt, die sich nicht für Radsport interessieren.