Eigentlich war das so alles nicht geplant. «Ich bin in der Erwartung hierhergereist, meinen Teamkollegen zu helfen», sagte Sepp Kuss nach der 17. Etappe vom Mittwoch. Umso schöner sei es deshalb, dass er das rote Trikot des Gesamtleaders an der Vuelta a España tragen durfte. Zu diesem Zeitpunkt musste sich der US-Amerikaner noch um dieses sorgen – er dachte gar, er hätte es bereits verloren.
This was absolutely magical and I could not think of a better track. 🥹
— Anna Mac 👑🪱 🌈🖤 (@AnnamacB) September 16, 2023
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Jonas Vingegaard und Primoz Roglic, beide wie Kuss beim Team Jumbo-Visma unter Vertrag, hatten den Rückstand auf den Leader verkürzt und vor allem der Däne wurde ihm immer gefährlicher. Doch der 29-jährige Kuss behielt die Führung und wird am heutigen Sonntag aller Voraussicht nach zum grössten Triumph seiner Karriere fahren.
Denn ab der viertletzten Etappe am Donnerstag verzichteten Vingegaard und Roglic auf Angriffe auf ihren Teamkollegen. Zuvor war viel Kritik auf die beiden und auch ihr Team eingeprasselt. Aus Sicht einiger ehemaliger Radprofis habe es von Respektlosigkeit und Undankbarkeit gezeugt, dass die beiden eigentlichen Team-Leader für ihren sonst so loyalen Helfer nicht zurückstecken und ihm den Erfolg nicht gönnen wollten.
Dann erfolgte aber doch noch der Strategiewechsel, Jumbo-Visma gab einen Nichtangriffspakt aus und Vingegaard sowie Roglic stellten sich in den Dienst des Teamkollegen – so wie es dieser zuvor immer tat. Eigentlich fungiert Kuss als einer der besten Zuarbeiter nämlich im Hintergrund. In dieser Aufgabe ist der Wahl-Andorraner einer der besten.
Ohne den Edelhelfer wären gemäss vieler Experten weder Roglics Erfolge an den Spanien-Rundfahrten zwischen 2019 und 2021 und am Giro d'Italia im vergangenen Mai noch Vingegaards Triumphe an der Tour de France in den letzten beiden Jahren möglich gewesen. Dass Kuss nun seinerseits – sorry – zum Handkuss kommt, sei nur folgerichtig und verdient.
Ganz ohne Zufälle ist seine Führung aber nicht entstanden. Denn einzig auf der 6. Etappe, auf der ihn die Favoriten gewähren liessen, gewann Kuss gegenüber Vingegaard wirklich Zeit. Es war der einzige Etappensieg von Kuss an der dreiwöchigen Rundfahrt. Um 2:52 Minuten distanzierte Kuss den Dänen und auch den Slowenen Roglic dort. Zwei Tage später übernahm Kuss die Führung in der Gesamtwertung.
Dabei kam ihm auch entgegen, dass Vingegaard in der ersten Woche noch mit Magenproblemen zu kämpfen hatte und während einer Etappe gar eine Toilettenpause im Gebüsch einlegen musste, wie er später erzählte. In der Folge vergrösserte Überraschungsleader Kuss den Vorsprung auf die Konkurrenz stetig – Gefahr drohte ihm nur von den immer näherkommenden Vingegaard und Roglic.
Mit ihren Attacken auf den eigentlichen Edelhelfer verstiessen die beiden zwar gegen ein ungeschriebenes Radsport-Gesetz, doch sah Kuss darin anders als viele Fans und Experten kein Problem. «Ich will den Sieg nicht geschenkt bekommen. Das ist nicht Sport», sagte er, nachdem sein Vorsprung auf Vingegaard auf unter eine halbe Minute geschmolzen war. Als Kuss am Folgetag am Angliru, einem der härtesten Pässe Europas, merkte, dass er nicht mit seinen Teamkollegen mithalten könne, gab er Roglic und Vingegaard gar das «Go» für einen Angriff.
Dass sich Kuss auf dem bis zu 24 Prozent steilen Schlussanstieg der 17. Etappe nicht komplett abhängen und in der Gesamtwertung überholen liess, hatte dann vorentscheidenden Charakter. Denn wie Kuss später sagte, hatten sich das Team und die drei Spitzenfahrer auf zwei Strategien geeinigt: «Eine bis zur Angliru-Etappe und eine für danach.»
In der Folge ging es nur noch darum, «Sepp zu beschützen», wie Vingegaard sagte. «Die Jungs haben einen grossartigen Job gemacht und sind wunderbar für mich gefahren», bedankte sich Kuss, dessen beste Platzierung an einer der drei wichtigsten Rundfahrten der achte Rang an der Vuelta 2021 war, für die Hilfe seiner Teamkollegen. Diese wird ihm wohl auch auf der Schlussetappe sicher sein.
Geschmälert wird der Erfolg durch die Unterstützung des eigentlichen Spitzen-Duos, das gleichzeitig die Plätze 2 und 3 in der Gesamtwertung verteidigen soll, aber nicht. Obwohl am Ende einer Rundfahrt nur einer den ganzen Ruhm einheimsen kann, ist der Radsport ein Teamsport und benötigen selbst die erfolgreichsten Fahrer gute Helfer.
Erreicht Kuss Madrid heute tatsächlich als Gesamtführender, wäre es der mit Abstand grösste Erfolg in der Karriere des Mannes aus Colorado. Die Vuelta ist eines der renommiertesten Rennen im Radsport nach der Tour de France, neben dieser und dem Giro ist die Spanien-Rundfahrt die einzige Grand Tour im Rennkalender. Mit dem Triumph an einer solchen geht automatisch grosses Renommee einher. Nachdem er seinen Teamkollegen bereits mehrmals zu grossem Ruhm verholfen hat, steht Sepp Kuss dann also für einmal nicht im Hintergrund.