Die 2. Läufe von Vreni Schneider waren berühmt. Und je länger sie her sind, umso berühmter wurden sie.
55 Weltcuprennen entschied die Glarnerin aus Elm zwischen 1984 und 1995 für sich, mehr als jede und jeder andere mit Schweizer Pass. Schneider gewann im Weltcup 34 Slaloms und der Eindruck ist der, dass sie nach einem nicht optimalen 1. Lauf sehr oft noch im 2. Lauf an die Spitze stürmte.
So wie das Marco Odermatt am Dienstagabend tat, als er in Schladming bei Halbzeit auf dem 11. Rang klassiert war. Eine knappe Sekunde fehlte dem Saisondominator auf den Führenden Manuel Feller. Eine Differenz, die «Odi» umbog: Fünfter Riesenslalom des Winters, fünfter Sieg.
Die Fans sind sich anderes gewohnt von Odermatt, der im Riesenslalom meist schon nach halbem Pensum das Feld anführt. Eine Aufholjagd wie auf der Planai in Schladming besitzt bei ihm Seltenheitswert.
Und wie war das nun bei Schneider, die nicht nur für den Boulevard, sondern im ganzen Land das «Gold-Vreni» war? Die Analyse ihrer 55 Weltcupsiege sowie der je drei Olympiasiege und Weltmeistertitel zeigt, dass sie tatsächlich in etwa jedem zweiten Rennen nicht schon bei Halbzeit in Führung lag. Das «etwa» müssen wir deshalb anfügen, weil die Statistiken des Ski-Weltverbands FIS die 1980er- und 1990er-Jahre betreffend lückenhaft sind und auch mittels Recherche in der Schweizer Mediendatenbank bei einigen Rennen nicht ermittelt werden konnte, wie Schneider im 1. Lauf abgeschnitten hatte.
Wie Odermatt in Schladming schaffte es auch Schneider einmal, von Rang 11 aus noch zu siegen. Es war zugleich das schlechteste Halbzeit-Ergebnis, das sie noch in einen Sieg verwandeln konnte. Im März 1990 gelang ihr dies in einem Slalom im schwedischen Are: Aus einem Rückstand von 1,22 Sekunden auf die Führende Claudia Strobl machte sie einen Vorsprung von 0,50 Sekunden auf die am Ende zweitplatzierte Patricia Chauvet.
Betrachtet man bei Schneiders Siegen die Positionsverbesserungen vom 1. zum 2. Lauf, dann war sie zumeist schon bei Halbzeit in den Top 5 klassiert. Es sind daher wohl vor allem zwei andere Faktoren dafür entscheidend, dass heute noch so oft von ihren berühmten 2. Läufen die Rede ist.
Da sind zum einen die Olympiasiege: Dreimal Gold gewann Vreni Schneider. Und sowohl beim Riesenslalom-Olympiasieg in Calgary 1988 als auch beim Slalom-Olympiasieg 1994 in Lillehammer schaffte sie es, von Platz 5 aus noch die Spitze zu erklimmen. Vreni Schneider, die Königin der 2. Läufe – wenig bleibt so sehr in Erinnerung wie Olympia.
Der andere Faktor, der den Mythos ihrer 2. Läufe nährte, waren die Zeitabstände, mit denen sie gewann, egal ob sie zum Zmittag bereits führte oder nicht. Und selbst wenn Vreni Schneider schon vorne lag, konnte sie in der Entscheidung sehr oft noch einen draufsetzen. Den Slalom-Olympiasieg in Calgary zum Beispiel errang sie mit zwei Laufbestzeiten und einem Gesamtvorsprung von 1,68 Sekunden. Gleich in beiden Durchgängen die Schnellste zu sein, gelang der Elmerin bei rund der Hälfte ihrer Siege.
Die vielleicht eindrücklichste Aufholjagd legte die heute 59-jährige Elmerin im Februar 1994 hin. Wenige Tage nach dem Unfalltod ihrer guten Freundin Ulli Maier hatte sie am Rücktritt herumstudiert. Trotzdem reiste Schneider nach Spanien, wo sie in der Sierra Nevada im 1. Lauf des Slaloms 1,92 Sekunden auf die Führende Roberta Serra einbüsste.
Schneider dachte zwischen den Läufen mehr noch als sonst in jenen Tagen an Maier. Und setzte dann auf dem steilen Hang zu einem Traumlauf an, wie ihn die Ski-Welt noch selten gesehen hatte. Sie gewann das Rennen überlegen, aus den knapp zwei Sekunden Rückstand wurde ein Vorsprung von 1,36 Sekunden auf Pernilla Wiberg. «Das war mein bester Lauf!», sagte sie dem «Sonntags Blick».
Ein Jahr und sechs Weltcupsiege später trat Vreni Schneider dann tatsächlich zurück. Für Marco Odermatt geht der Winter nun mit Rennen weiter, in denen er jeweils nur eine Chance hat. Am Samstag und Sonntag stehen in Garmisch-Partenkirchen zwei Super-G auf dem Programm.