Wer die Weltcup-Resultate des Winters studiert, fühlt sich unweigerlich an die Kultkomödie «Man spricht deutsh» erinnert. Von den 36 Podestplätzen der bislang zwölf Einzelspringen des Winters gingen sagenhafte 22 an Österreich, neun an Deutschland, vier an den Schweizer Gregor Deschwanden und nur ein einziger an einen «Externen». Der Norweger Kristoffer Eriksen Sundal belegte in Titisee-Neustadt den dritten Platz.
Zuletzt war die Dominanz der ÖSV-Adler erdrückend. In den letzten vier Springen – zwei in Engelberg und die ersten beiden der Vierschanzentournee in Oberstdorf und Garmisch-Partenkirchen – feierte Österreich zwei Dreifach-Siege und von den Nicht-Österreichern gelang es bloss Deschwanden, dem Nachbarn mit den Rängen 2 und 3 in die Suppe zu spucken. In der Tournee-Wertung führt Daniel Tschofenig vor Jan Hörl und Stefan Kraft.
Wenn eine Nation den anderen dermassen überlegen ist, wird natürlich fieberhaft nach Gründen dafür geforscht. Dem Norweger Halvor Egner Granerud, Tournee-Sieger 2023, kommt die Sache jedenfalls verdächtig vor. «Es ist seltsam und sehr ungewöhnlich, dass eine Nation so dominiert, wie sie es jetzt tut», sagte er dem norwegischen TV-Sender NRK. Wäre er Pius Paschke, bis zur Tournee Gesamtweltcupleader aus Deutschland, oder Gregor Deschwanden, dann «wäre ich wahrscheinlich ziemlich misstrauig», meinte Granerud.
In der Zeitung «Dagbladet» meinte Johann André Forfang, Fünfter in Oberstdorf und Siebter in Garmisch-Partenkirchen: «Wir kratzen uns nur am Kopf.» Es sei offensichtlich, dass die Österreicher etwas hätten, was andere nicht haben. «Sonst wären sie nicht kollektiv so stark.»
Olympiasiegerin Maren Lundby, seine Landsfrau, war in ihrer Wortwahl als TV-Expertin noch schärfer. «Es ist absolut krank! Niemand weiss, was es ist.» Lundby vermutet einen Materialvorteil. «Es ist verdächtig. Da muss etwas sein.» Hinter vorgehaltener Hand wird gemäss der «Bild»-Zeitung gemunkelt, die Österreicher würden trotz mittlerweile strengerer Regeln mit zu grossen Anzügen springen. Dadurch hätten sie in der Luft mehr Tragweite. Zudem gibt es Gerede über einen «Wunder-Stoff», der an bestimmten Stellen des Anzugs eingenäht sein soll.
Die Vorwürfe wollen die Österreicher nicht auf sich sitzen lassen. Cheftrainer Andreas Widhölzl bezeichnete die Anschuldigungen in der «Kronen-Zeitung» als «Blödsinn». Es sei einfach so, «dass meine Jungs derzeit technisch besser springen als alle anderen». Zudem hätten sie dank der vielen Erfolge auch ein unglaubliches Selbstvertrauen. Der 22-jährige Tournee-Leader Tschofenig gab sich gelassen: «Sie können so viel spionieren, wie sie wollen. Wir haben nichts zu verbergen.»
Das bestätigte auch Christian Kathol, der beim Weltverband FIS für die Einhaltung der Material-Regeln zuständig ist. «Durch die neuen Regeln, dass jeder Sprunganzug im Vorfeld angemeldet werden muss, ist Schummeln viel, viel schwieriger geworden», sagte Kathol der «Bild». Er würde es auch erkennen, würden andere Stoffe in die Anzüge eingenäht werden. Wie Widhölzl nannte Kathol rein sachliche Gründe für die aktuelle ÖSV-Dominanz: «Die Österreicher haben einfach sehr gut ihre Hausaufgaben gemacht und springen momentan mit der besten Technik.»
Der TV-Sender RTL hatte das Skispringen in der Ära von Martin Schmitt und Sven Hannawald als «Formel 1 des Winters» angepriesen. Das trifft insofern deshalb zu, weil hier wie dort akribisch an Details getüfelt wird. Aus Schweizer Sicht unvergessen, wie der Toggenburger Simon Ammann 2010 in Vancouver mit einem gekrümmten Bindungsstab die Konkurrenz, allen voran die Österreicher, überraschte und zum zweiten Mal Doppel-Olympiasieger wurde.
Eine solche «Wunderwaffe» traut die norwegische Expertin Maren Lundby jetzt den Österreichern zu. Es sei kein Zufall, dass es ihnen gerade jetzt so gut gehe. «Sie waren die ganze Saison über ziemlich gut, aber ich glaube, sie hatten noch ein kleines Ass im Ärmel, das sie erst jetzt herausgezogen haben. So dass niemand die Idee stehlen konnte, bevor die wichtigsten Anlässe anstehen.»
Einen Beweis hat indes niemand. Doch die Frage bleibt: Sind es Technik, Taktik und Talent – oder steckt doch mehr dahinter? Die Skisprungwelt schaut in Innsbruck (heute Qualifikation, morgen Wettkampf) und zum Abschluss am Dreikönigstag in Bischofshofen mit Argusaugen auf die rot-weiss-roten Adler und ihre Anzüge.
Die Schweizer Sportfans blicken mindestens so gespannt auf das Abschneiden von Gregor Deschwanden. Noch ist er Vierter der Gesamtwertung, sollte er sich verbessern können, würde er es als erster Schweizer seit Simon Ammann (Dritter 2014) auf das Podest der Vierschanzentournee schaffen.