Die Staatsschulden von Japan betragen rund 250 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP). Ein astronomischer Wert. Gemäss den Theorien der Mainstream-Ökonomen müsste die japanische Wirtschaft längst von einer Hyperinflation zerstört sein.
Zum Vergleich: Nach der Finanzkatastrophe 2008 formulierten die beiden Ökonomen Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff ein weitgehend akzeptiertes Gesetz, das besagt: Übersteigen die Staatsschulden 90 BIP-Prozent, dann folgt die Katastrophe auf dem Fuss.
Japan lebt seit Jahrzehnten bestens mit seinen Schulden. Es gehört nach wie vor zu den reichsten Ländern der Welt. Die japanische Nationalbank kämpft nicht gegen Inflation, sondern versucht im Gegenteil seit Jahren, endlich die Deflation zu besiegen.
Was für Japan gilt, soll für alle Nationen dieser Welt gelten, zumindest für diejenigen, die eine eigenständige Währung besitzen. Das fordern die Vertreter der Modern Monetary Theory (MMT). Noch nie davon gehört? Das dürfte sich bald ändern. MMT könnte eines der zentralen Themen im US-Wahlkampf 2020 werden.
Wovon sprechen wir überhaupt? Kurz zusammengefasst besagt MMT: Ein Land, das seine eigene Währung hat, kann ganz einfach Geld drucken, wenn es darum geht, seine Schulden zu bezahlen. Die Zentralbank muss einzig dafür sorgen, dass die Zinsen tiefer bleiben als die Wachstumsrate des BIP. Simpel, oder?
Um die MMT zu verstehen, muss man zunächst ein scheinbar unausrottbares Missverständnis überwinden: Staatsschulden und private Schulden sind zwei vollkommen verschiedene Paar Schuhe. Der Staat muss eben nicht wie die sprichwörtliche schwäbische Hausfrau ihr Budget im Griff haben. Der Staatshaushalt folgt vielmehr ganz anderen Gesetzmässigkeiten.
Die derzeit bekannteste Vertreterin der MMT heisst Stephanie Kelton. Sie ist Ökonomie-Professorin an der Stony Brook University und war Beraterin von Bernie Sanders in seinem Wahlkampf 2016. Auch dessen Schülerin Alexandria Ocasio-Cortez – der Shooting Star der US-Politik – ist von Kelton beeinflusst.
Im Gegensatz zu Privaten kann der Staat Fiat-Money – Geld aus dem Nichts – schaffen, und er kann dieses Geld für seine Ziele einsetzen. «So wie wir den Zweiten Weltkrieg finanziert haben, können wir auch einen New Green Deal finanzieren» stellt Kelton in einem Artikel bei Bloomberg fest. «Der Kongress müsste einzig die Notenbank anweisen, die Zinssätze nicht über ein bestimmtes Mass steigen zu lassen.»
Merke: Nach dem Zweiten Weltkrieg betrugen die amerikanischen Staatsschulden 125 Prozent des BIP.
Solange die Zentralbank den Zinssatz unter der Wachstumsrate hält, hat sie die Inflation im Griff. «Es gibt keinen Grund für radikale Kürzungen der Ausgaben oder für Kürzungen in den Sozialausgaben», erklärt James K. Galbraith, ein weiterer Vertreter der MMT.
Solange die Zentralbank diese einfache Regel befolgt, besteht auch keine Gefahr eines Crowding Out. Darunter versteht man das Phänomen, dass bei steigenden Staatsschulden auch die Zinsen steigen und private Unternehmer damit keine Möglichkeit mehr haben, zu vernünftigen Bedingungen Geld aufzunehmen. Hält die Zentralbank die Zinsen tief, werden die Staatsdefizite vielmehr zu einer Anlagemöglichkeit für private Spargelder.
Nicht nur die Progressiven haben der Spar-Hysterie den Kampf angesagt. Auch die Konservativen haben ihre Meinung geändert. Bis vor Kurzem waren steigende Staatsschulden für sie gleichbedeutend mit dem Untergang des Abendlandes. 2017 haben die Republikaner ohne mit den Wimpern zu zucken eine Steuerreform genehmigt, welche das US-Staatsdefizit innerhalb von zehn Jahren um 1,5 Billionen Dollar erhöhen wird. Präsident Trump hat in seiner State-of-the-Union-Rede die Staatsschulden mit keinem Wort erwähnt.
In Deutschland fordert derweil Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, seine Regierung immer wieder auf, endlich die Fixierung auf die «schwarze Null», ein ausgeglichener Staatshaushalt, aufzugeben. Stattdessen solle der Staat die günstige Gelegenheit – tiefe Zinsen – beim Schopf packen und grosszügig in Infrastruktur und Bildung investieren. Eine ähnliche Forderung hat der ehemalige Spitzenbanker Oswald Grübel schon vor Jahren auch für die Schweiz erhoben.
Allerdings teilen nicht alle Ökonomen die neue Liebe zu Staatsschulden. Prominentester Kritiker ist ausgerechnet Paul Krugman, Nobelpreis- und linksliberaler Fahnenträger. Er traut den Schalmeienklängen der MMT-Vertreter nicht und warnt vor einer Hyperinflation und der Zerstörung der Währung wie einst bei der Hyperinflation in Deutschland zu Beginn der 1920er Jahre.