meist klar
DE | FR
Wirtschaft
Gesellschaft & Politik

Die neue selbstgefällige Klasse

Mehr Wunsch als Realität: Mit dem Laptop selbstständige Unternehmerin sein.
Mehr Wunsch als Realität: Mit dem Laptop selbstständige Unternehmerin sein.bild: shutterstock

Die selbstgefällige Klasse – oder wie wir uns selbst ins Elend matchen

Von wegen Gig Economy und Multikulti-Leistungsgesellschaft: Der Ökonom Tyler Cowen widerlegt die Lebenslügen der digitalen Gesellschaft.
09.04.2017, 11:0010.04.2017, 00:51
Mehr «Wirtschaft»

Wir arbeiten nicht mehr zu festen Arbeitszeiten an festen Arbeitsplätzen, sondern sind mit Laptop und Internet auf dem ganzen Globus tätig. Wir sind keine angestellten Arbeitssklaven mehr, sondern nehmen unser Schicksal als empowerte Selbstständige selbst in die Hand. Wir pfeifen auf die Sicherheit eines Grosskonzerns und hangeln uns von Startup zu Startup durch; und wenn wir dabei nicht Milliardäre werden, so haben wir wenigstens Spass gehabt.  

Arbeitnehmer sind keine Rockstars

So ungefähr wird die Arbeitswelt in der digitalisierten Gesellschaft geschildert – und dafür gibt es selbstverständlich auch schon einen Begriff: Gig Economy. Er stammt aus der Rockszene, wo ein Auftritt einer Band Gig genannt wird. So wie Rockmusiker von Gig zu Gig wandern, bewegt sich der moderne Mensch in der digitalen Arbeitswelt: mobil, flexibel und selbstständig.  

Tylor Cowen ist Professor an der George Mason University. Am 29. Mai wird er am Gottlieb Duttwiler Institut in Rüschlikon auftreten. Mehr erfährst du hier.
Tylor Cowen ist Professor an der George Mason University. Am 29. Mai wird er am Gottlieb Duttwiler Institut in Rüschlikon auftreten. Mehr erfährst du hier.

Vergesst es! In seinem neuen Buch «The Complacent Class» widerlegt Tylor Cowen diese rosige Utopie brutal. Er ist Professor an der George Mason University bei Washington und gehört derzeit zu den angesagtesten US-Ökonomen. Cowen schreibt:

«Heutzutage wechseln die Amerikaner ihren Job und ihren Wohnort weniger als früher, und öfters verlassen sie heute nicht einmal ihre Wohnung. [...] Die Anzahl der Startups in Prozenten aller Unternehmen hat seit den 1990er Jahren abgenommen. Es gibt weniger «Einhorn-Wunder» [Startups mit einem Börsenwert von mindestens einer Milliarde Dollar, Anm. der Red.], weniger Unternehmen gehen unter und die Marktkonzentration nimmt zu. Der durchschnittliche Amerikaner ist älter denn je und das trifft auch für die Unternehmen zu.»

Cowen beschreibt amerikanische Verhältnisse, doch bei uns dürfte es ähnlich aussehen. Der Grund für seinen Befund liegt nämlich im so genannten Matching. Darunter versteht man das Phänomen, dass wir unsere Bedürfnisse immer häufiger mit immer raffinierteren Algorithmen abgleichen, bis wir genau das erhalten und ja kein Risiko mehr eingehen.  

Die Magie des Matching

Matching ist allgegenwärtig geworden. «Match.com gleicht unsere Bedürfnisse in der Liebe ab, Spotify und Pandora unseren Musikgeschmack», schreibt Cowen. «Software matcht unsere Zimmerkollegen in der Uni, LinkedIn Vorgesetzte und Angestellte, Facebook verbindet uns mit unserer Vergangenheit – unsere alten Nachbarn und Freunde – und serviert uns massgeschneiderte News und Werbung, oder mindestens was wir dafür halten.»

Auf den ersten Blick ist Matching wunderbar: Wir werden von Musik verschont, die wir nicht hören wollen. Wir finden den Partner oder die Partnerin, die unseren intellektuellen, ästhetischen und sexuellen Vorlieben entspricht. Wir arbeiten in einem Betrieb mit coolen Chefs und gleichgesinnten Kolleginnen und Kollegen. Kurz: Alles, was unseren Alltag mühsam macht, lässt sich mit Matching ausmerzen. Das ist zwar bequem, aber auch langweilig.

«Die Millenials sind im Begriff, die am wenigsten unternehmenslustige Generation der jüngeren Vergangenheit zu werden.»
Tylor Cowen

 «No Risk, no Fun» gilt nicht mehr in der Matching-Gesellschaft. Homosexualität lockt keinen Hund mehr hinter dem Ofen hervor. Die Kriminalitätsrate ist markant gesunken. Gewalttätige Demonstrationen kennen wir noch von den Heldenepen der 68er Generation. Protestaktionen sind heute so gematcht, dass kaum mehr schlimme Dinge passieren können. In den USA gibt es heute auf Demos spezialisierte Eventmanager, die den Anlass organisieren wie eine Hochzeit.  

Wer will, kann heute wochenlang sein Haus nicht verlassen. Die Informationen kommen per Internet, die Lieblingsserie streamt uns Netflix ins Wohnzimmer und die Lebensmittel lassen wir uns vom Onlineshop liefern. Sich für eine Karriere abmühen, das war gestern. «Die Millenials sind im Begriff, die am wenigsten unternehmenslustige Generation der jüngeren Vergangenheit zu werden», so Cowen.  

Gleich und Gleich gesellt sich

Das Matching macht das Leben für alle bequemer, aber es macht nicht alle gleich. Im Gegenteil, es führt zu einer neuen Klassengesellschaft. Cowen spricht von einer «selbstgefälligen Klasse» (complacent class). Das Sprichwort «Gleich und Gleich gesellt sich gern» wird auf die Spitze getrieben. Die Zeiten, in denen der Arzt die Krankenschwester und der Manager seine Sekretärin geheiratet haben, sind vorbei. In der Matching-Gesellschaft paart sich, wer die gleichen Schulen besucht, die gleiche Arbeit, die gleichen Hobbys, den gleichen IQ und das gleiche Einkommen hat.  

Die Lockerheit beim Coworking trügt.
Die Lockerheit beim Coworking trügt.bild: shutterstock

Auf diese Weise wird die Gesellschaft in immer kleinere Segmente aufgeteilt, die sich voneinander abkapseln. Die Reichen und Kreativen blieben unter sich. «Ironischerweise sind es die Begüterten, die Gebildeten und die Kreativen, die sich oft am heftigsten über Ungleichheit und die Segregation beklagen», so Cowen.

Störefriede unerwünscht

Oberflächlich gesehen ist die moderne Gesellschaft tolerant. In einem coolen Betrieb arbeiten heute Menschen aller Hautfarben, Religionen und sexuellen Vorlieben einträchtig zusammen. Dafür haben die Matching-Algorithmen gesorgt. Ungebildete, störrische oder gar destruktive Kolleginnen und Kollegen sind zuvor von ihnen aussortiert worden.

Deshalb kann man sich auch einen lockeren Umgang erlauben. Der Krawattenzwang für Chefs fällt weg. Doch der lockere Umgang muss hart erarbeitet werden. «Die Kultur des Informellen ist eine Kultur von Menschen, die etwas erreicht haben und es auch beweisen können», so Cowen.  

Zerstört die Kriminalität das Internet?

Die selbstgefällige Klasse wird nicht von Dauer sein. Die Spannungen in der Gesellschaft werden wieder zunehmen. In den Rassenunruhen von Ferguson und dem Wahlsieg von Donald Trump sieht Cowen die Vorzeichen einer neuen unruhigen Ära. Die Kriminalität wird wieder zunehmen. «Die nächste Kriminalitätswelle wird das Internet zerbrechen, oder zumindest wichtige Teile davon», prophezeit Cowen.  

Auch die Demokratie ist in Gefahr. «Die selbstgefällige Klasse hat aufgehört, an die selbstheilenden Kräfte der Welt, in der wir leben, zu glauben», so Cowens düsteres Fazit. «Deshalb werden die Armen gegen die Reichen rebellieren. Die Gesellschaft hat auf allen Ebenen den Glauben an das System verloren.»

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet um die Zahlung abzuschliessen)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Das könnte dich auch noch interessieren:
53 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Tschedai
09.04.2017 14:58registriert Januar 2017
Die Gig-Economy ist in vielen Teilen ein "Race to the bottom". Man sieht es an Uber, Leute, die das schnelle Geld nebenbei lockt, nehmen es in Kauf, dass Uber keine Sozialversicherungsbeiträge leistet. Aber wenn diese Leute mal alt sind und ihnen das Geld zum Leben fehlt, soll der Staat wieder einspringen. Irgendwo wird diese Entwicklung nicht aufgehen. Hoffentlich merkt man es früh genug.
1028
Melden
Zum Kommentar
avatar
Pitsch Matter
09.04.2017 11:24registriert September 2016
Die Welt wird sich in den nächsten Jahren/Jahrzente so dermassen Verändern, unser Horizont ist zu knapp, um eine Vorhersage zu treffen. Ich freue mich.
797
Melden
Zum Kommentar
avatar
eulach
09.04.2017 12:42registriert Dezember 2016
Arbeite selbst für ein Jungunternehmen im Bereich des digitalen Marketings. Meine Arbeitsutensilien bestehen aus Laptop, Bleistift und Notizblock; entlöhnt wird das ausgelieferte Produkt und nicht die investierte Zeit. Wo ich arbeite, kümmert niemanden – der obige Text hat mich im Fadenkreuz.

Wo der Artikel Recht hat: wir machen's uns zu einfach. Gehen zu selten auf fremde Menschen zu und verlassen unsere kleine Filterblase praktisch nie. Mehr Wagemut und Offenheit hilft, und die Lust, sich mal wieder zu verirren – ohne Google Maps als Nothelfer.
809
Melden
Zum Kommentar
53
Bundesrat will mehr Frauen und Ältere in den Arbeitsmarkt bringen

Der Bundesrat zieht ein positives Zwischenfazit zur seit bald sechs Jahren geltenden Stellenmeldepflicht für Berufsarten mit hoher Arbeitslosigkeit. Aber er will die Situation insbesondere für Frauen und ältere Arbeitnehmende weiter verbessern.

Zur Story