Wir arbeiten nicht mehr zu festen Arbeitszeiten an festen Arbeitsplätzen, sondern sind mit Laptop und Internet auf dem ganzen Globus tätig. Wir sind keine angestellten Arbeitssklaven mehr, sondern nehmen unser Schicksal als empowerte Selbstständige selbst in die Hand. Wir pfeifen auf die Sicherheit eines Grosskonzerns und hangeln uns von Startup zu Startup durch; und wenn wir dabei nicht Milliardäre werden, so haben wir wenigstens Spass gehabt.
So ungefähr wird die Arbeitswelt in der digitalisierten Gesellschaft geschildert – und dafür gibt es selbstverständlich auch schon einen Begriff: Gig Economy. Er stammt aus der Rockszene, wo ein Auftritt einer Band Gig genannt wird. So wie Rockmusiker von Gig zu Gig wandern, bewegt sich der moderne Mensch in der digitalen Arbeitswelt: mobil, flexibel und selbstständig.
Vergesst es! In seinem neuen Buch «The Complacent Class» widerlegt Tylor Cowen diese rosige Utopie brutal. Er ist Professor an der George Mason University bei Washington und gehört derzeit zu den angesagtesten US-Ökonomen. Cowen schreibt:
Cowen beschreibt amerikanische Verhältnisse, doch bei uns dürfte es ähnlich aussehen. Der Grund für seinen Befund liegt nämlich im so genannten Matching. Darunter versteht man das Phänomen, dass wir unsere Bedürfnisse immer häufiger mit immer raffinierteren Algorithmen abgleichen, bis wir genau das erhalten und ja kein Risiko mehr eingehen.
Matching ist allgegenwärtig geworden. «Match.com gleicht unsere Bedürfnisse in der Liebe ab, Spotify und Pandora unseren Musikgeschmack», schreibt Cowen. «Software matcht unsere Zimmerkollegen in der Uni, LinkedIn Vorgesetzte und Angestellte, Facebook verbindet uns mit unserer Vergangenheit – unsere alten Nachbarn und Freunde – und serviert uns massgeschneiderte News und Werbung, oder mindestens was wir dafür halten.»
Auf den ersten Blick ist Matching wunderbar: Wir werden von Musik verschont, die wir nicht hören wollen. Wir finden den Partner oder die Partnerin, die unseren intellektuellen, ästhetischen und sexuellen Vorlieben entspricht. Wir arbeiten in einem Betrieb mit coolen Chefs und gleichgesinnten Kolleginnen und Kollegen. Kurz: Alles, was unseren Alltag mühsam macht, lässt sich mit Matching ausmerzen. Das ist zwar bequem, aber auch langweilig.
«No Risk, no Fun» gilt nicht mehr in der Matching-Gesellschaft. Homosexualität lockt keinen Hund mehr hinter dem Ofen hervor. Die Kriminalitätsrate ist markant gesunken. Gewalttätige Demonstrationen kennen wir noch von den Heldenepen der 68er Generation. Protestaktionen sind heute so gematcht, dass kaum mehr schlimme Dinge passieren können. In den USA gibt es heute auf Demos spezialisierte Eventmanager, die den Anlass organisieren wie eine Hochzeit.
Wer will, kann heute wochenlang sein Haus nicht verlassen. Die Informationen kommen per Internet, die Lieblingsserie streamt uns Netflix ins Wohnzimmer und die Lebensmittel lassen wir uns vom Onlineshop liefern. Sich für eine Karriere abmühen, das war gestern. «Die Millenials sind im Begriff, die am wenigsten unternehmenslustige Generation der jüngeren Vergangenheit zu werden», so Cowen.
Das Matching macht das Leben für alle bequemer, aber es macht nicht alle gleich. Im Gegenteil, es führt zu einer neuen Klassengesellschaft. Cowen spricht von einer «selbstgefälligen Klasse» (complacent class). Das Sprichwort «Gleich und Gleich gesellt sich gern» wird auf die Spitze getrieben. Die Zeiten, in denen der Arzt die Krankenschwester und der Manager seine Sekretärin geheiratet haben, sind vorbei. In der Matching-Gesellschaft paart sich, wer die gleichen Schulen besucht, die gleiche Arbeit, die gleichen Hobbys, den gleichen IQ und das gleiche Einkommen hat.
Auf diese Weise wird die Gesellschaft in immer kleinere Segmente aufgeteilt, die sich voneinander abkapseln. Die Reichen und Kreativen blieben unter sich. «Ironischerweise sind es die Begüterten, die Gebildeten und die Kreativen, die sich oft am heftigsten über Ungleichheit und die Segregation beklagen», so Cowen.
Oberflächlich gesehen ist die moderne Gesellschaft tolerant. In einem coolen Betrieb arbeiten heute Menschen aller Hautfarben, Religionen und sexuellen Vorlieben einträchtig zusammen. Dafür haben die Matching-Algorithmen gesorgt. Ungebildete, störrische oder gar destruktive Kolleginnen und Kollegen sind zuvor von ihnen aussortiert worden.
Deshalb kann man sich auch einen lockeren Umgang erlauben. Der Krawattenzwang für Chefs fällt weg. Doch der lockere Umgang muss hart erarbeitet werden. «Die Kultur des Informellen ist eine Kultur von Menschen, die etwas erreicht haben und es auch beweisen können», so Cowen.
Die selbstgefällige Klasse wird nicht von Dauer sein. Die Spannungen in der Gesellschaft werden wieder zunehmen. In den Rassenunruhen von Ferguson und dem Wahlsieg von Donald Trump sieht Cowen die Vorzeichen einer neuen unruhigen Ära. Die Kriminalität wird wieder zunehmen. «Die nächste Kriminalitätswelle wird das Internet zerbrechen, oder zumindest wichtige Teile davon», prophezeit Cowen.
Auch die Demokratie ist in Gefahr. «Die selbstgefällige Klasse hat aufgehört, an die selbstheilenden Kräfte der Welt, in der wir leben, zu glauben», so Cowens düsteres Fazit. «Deshalb werden die Armen gegen die Reichen rebellieren. Die Gesellschaft hat auf allen Ebenen den Glauben an das System verloren.»