
Gemäss Robert Reich muss der Kapitalismus nicht überwunden, sondern derart organisiert werden, dass er allen zugute kommt.
Bild: laprogressive In
seinem neuesten Buch zeigt der ehemalige US-Arbeitsminister auf, warum der
Gegensatz von Markt und Staat ein Irrtum ist, weshalb der Lohn unter den
bestehenden Verhältnissen nichts mehr mit Leistung gemein hat – und wie wir
wieder zu einer humanen Wirtschaftsordnung zurückfinden können.
27.12.2015, 13:2328.12.2015, 15:00

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In der Psychologie gibt es ein bekanntes
Experiment. Es geht wie folgt: Zwei Testpersonen erhalten zusammen 100 Franken.
Nur eine davon darf entscheiden, wie dieser Betrag aufgeteilt werden soll, die
zweite hat aber ein Vetorecht. Können sich die beiden nicht einigen, erhält
keiner von ihnen etwas.
Am fairsten wäre es selbstverständlich, wenn
jeder 50 Franken erhalten würde.
Da Menschen nun mal Menschen sind, wird
derjenige, der das Teilverhältnis bestimmen darf, versuchen, mehr für sich herauszuschinden.
Bis zu einem Verhältnis von etwa 70:30 geht diese fiese Rechnung auf. Danach
wird es schwierig. Derjenige, der nicht mitbestimmen kann, macht von seinem
Vetorecht Gebrauch und verzichtet lieber auf seinen Anteil, als dass er in
einen Deal einwilligen würde, der in seinen Augen komplett unfair ist.

Der Mensch versucht stets, für sich das Beste herauszuholen.
bild: shutterstock
Das Experiment gibt es in den verschiedensten Varianten
und führt stets zum gleichen Resultat: Wenn Menschen das Gefühl haben, dass sie
in einem Spiel übers Ohr gehauen werden, dann verweigern sie irgendwann die
Gefolgschaft, selbst wenn sie davon profitieren würden. Das gilt nicht nur im
Testlabor, das trifft auch in der Realität zu.
In der Schweiz beispielsweise ist die
Unterstützung der bilateralen Verträge mit der EU in den letzten Jahren
deutlich geschwunden. Dabei betonen Ökonomieprofessoren und Unternehmer
unisono, wie wichtig diese Verträge für unsere Wirtschaft und unseren Wohlstand
sind. Doch immer mehr Schweizerinnen und Schweizer haben offenbar das Gefühl,
dass die Gewinne aus diesen Verträgen zu einseitig verteilt werden, und sagen
deshalb: Lieber ein bisschen weniger Wohlstand und dafür mehr Fairness.
Für Robert Reich ist das keine Überraschung.
«Wenn der Kapitalismus aufhört, die wirtschaftlichen Errungenschaft an die
Mehrheit zu verteilen, dann wird er irgendwann nichts mehr zu verteilen haben –
auch an die reiche Elite an der Spitze nicht», schreibt er in seinem jüngsten
Buch «Saving Capitalism». Der ehemalige US-Arbeitsminister ist auch überzeugt,
dass zumindest in den USA die kritische Grenze erreicht oder teilweise gar
schon überschritten ist, an dem die Mehrheit die Gefolgschaft verweigert und
sagt: «No deal».

Robert Reichs «Saving Capitalism» ist hier erhältlich.
Der amerikanische Mittelstand schrumpft. Das
renommierte Pew Research Center hat in einer soeben veröffentlichten,
ausführlichen Untersuchung festgestellt, dass der Anteil des Mittelstandes an
der Gesamtbevölkerung erstmals seit den 1970er Jahren rückläufig ist. Die «Financial Times» fasst das zentrale
Ergebnis wie folgt zusammen:
«Der Kern der amerikanischen Gesellschaft umfasst heute weniger als 50 Prozent der Gesamtbevölkerung, verglichen mit 61 Prozent am Ende der 1960er Jahre. Diese Entwicklung wurde gleichzeitig von einer starken Zunahme der reichsten Amerikaner und von einer Expansion der ärmsten getrieben.»

Bild: tumblr/richpeople
Was ebenfalls auffällt: Erstmals seit langer
Zeit sinkt die Lebenserwartung der weissen Amerikaner im mittleren Alter.
Edward Luce, US-Korrespondent der «Financial Times», kommentiert das wie folgt:
«Es ist tragisch, dass so viele Leben verkürzt werden durch Selbstmord,
Alkoholismus, eine grassierende Heroinsucht in den Vorstädten und die
Abhängigkeit von Medikamenten.»
An dieser Stelle eine kurze Zwischenbemerkung: Die
US-Verhältnisse lassen sich nicht im Massstab von eins zu eins auf die Schweiz
übertragen. Parallelen sind jedoch unübersehbar.
Zurück zu Robert Reich. Er will den
Kapitalismus nicht überwinden, sondern ihn wieder in einen Zustand bringen, in
dem möglichst viele Menschen von den Früchten des effizienten Systems
profitieren können. Das ist keine Utopie:
«Anders als was Karl Marx postuliert hat, muss der Kapitalismus nicht zwangsläufig zu ökonomischer Unsicherheit und stets wachsender Ungleichheit führen.»
Robert Reich

Für Karl Marx war klar: Kapitalismus wird zwangsläufig zu einer immer grösseren Ungleichheit führen.
Bild: The Bridgeman Art Library
In den 30 goldenen Jahren nach dem Zweiten
Weltkrieg war der Kapitalismus ein ganz anderer als heute. Zwar gab es auch
damals reiche und weniger reiche Menschen. Die extremen Unterschiede – die
Tatsache etwa, dass heute ein CEO rund 300 Mal mehr verdient als ein
gewöhnlicher Angestellter – waren noch
bis zur Jahrhundertwende undenkbar.
Um wieder zu einem menschenwürdigen
Kapitalismus zurückzufinden, müssen gemäss Reich zwei Grundirrtümer beseitigt
werden: Der Glaube an den Gegensatz von Markt und Staat und die Vorstellung,
dass der Lohn der Leistung entspricht.
Zuerst zum Gegensatz zwischen Markt und Staat: Ohne
einen funktionierenden Staat gibt es auch keinen funktionierenden Markt, so
Reich. Deshalb geht es nicht um mehr oder weniger Staat, sondern darum, welche
Spielregeln gelten und wer davon profitiert:
«Die Regeln können so angelegt sein, dass die Effizienz maximiert wird, oder das Wachstum, oder die Fairness; oder aber sie können so konzipiert sein, dass die Gewinne von grossen Konzernen und Banken maximiert werden, und die Reichen noch reicher werden.»
Robert Reich
Hier ein Beispiel aus der Praxis: Das
Patentrecht schützt grundsätzlich das geistige Eigentum. Dagegen ist nichts
einzuwenden. Heute wird das Patentrecht beispielsweise in der Pharmaindustrie
dahingehend missbraucht, dass Grosskonzerne ihre auslaufenden Patente mit
Tricks verlängern können oder Preisabsprachen mit Generika-Herstellern treffen.
Beides führt dazu, dass Konsumenten viel zu viel für Medikamente bezahlen
müssen. Es ist daher nicht der Markt, der Schuld an der Misere ist, sondern die
Regeln, die falsche Anreize schaffen.
Die falschen Spielregeln begünstigen in erster
Linie die Grosskonzerne. Sie erhalten Steuervergünstigungen und Subventionen,
indem sie – plump ausgedrückt – die Politik kaufen. Ohne die Spenden der
Grosskonzerne und der Banken geht in der US-Politik nichts mehr. Das hat dazu
geführt, dass die Spielregeln immer mehr zugunsten eben dieser Grosskonzerne
ausfallen:
«Die wachsende Konzentration von politischer Macht bei einer Wirtschafts- und Finanzelite kann die Regeln bestimmen, nach denen in der Volkswirtschaft gespielt wird.»
Robert Reich
Mit anderen Worten: In den USA hat eine
verzerrte Marktwirtschaft den kritischen Punkt des eingangs zitierten Tests
erreicht. Niemand glaubt mehr daran, dass Lohn ein gerechter Gegenwert für
erbrachte Leistung ist. Das macht die Menschen zynisch und vergiftet das
politische Klima. «Menschen, die überzeugt sind, dass sie vom System über die
Ohren gehauen werden, sind eine leichte Beute für politische Demagogen mit
schneller Zunge und dummen Ideen», schreibt Reich.

Die Menschen haben den Glauben an einen gerechten Kapitalismus längst verloren.
bild: bmuc
Reich glaubt daran und plädiert dafür, dass
die Spielregeln wieder geändert werden, dass ein solider Staat dafür sorgt,
dass der Markt seinen Segen an alle verteilt. Der Kapitalismus muss nicht
überwunden, er muss neu organisiert werden. «Ein tugendhafter Zyklus ist machbar»,
so Reich. «Ein Zyklus, in dem ein breit verteilter Wohlstand mehr inklusive
politische Institutionen schafft, die wiederum dafür sorgen, dass der Markt
noch mehr Möglichkeiten und Optionen für noch mehr Menschen schafft.»
Die Neuorganisation des Kapitalismus ist weder
eine technische noch eine ökonomische Angelegenheit. «Es ist eine
Herausforderung für die Demokratie», schreibt Reich.
«Die entscheidende Debatte über unsere Zukunft dreht sich nicht über die Grösse des Staates, sie dreht sich darum, wem dieser Staat nützen soll.»
Robert Reich
(Gestaltung: Anna Rothenfluh)
Die drei Landesflughäfen haben im Sommerhalbjahr 2023 noch nicht ganz so viele Passagiere abgefertigt wie vor der Pandemie. Mit 30 Millionen reisten von Mai bis Oktober 2023 noch 6.4 Prozent weniger Menschen über die Flughäfen Zürich, Genf und Basel als in der Vergleichsperiode 2019.