«When a man is tired of London, he is tired of life», sagte der englische Schriftsteller Samuel Johnson. Die britische Metropole lockt auch 250 Jahre nach diesem Ausspruch Millionen von Besuchern an, darunter viele aus der Schweiz. Etwa 12’000 Menschen fliegen jeden Tag ab den Flughäfen Zürich, Basel und Genf nach London. Einige Passagiere steigen dort auf ein anderes Flugzeug um, doch etwa 8000 haben ihr Endziel im Vereinigten Königreich.
Wegen der Grösse des Marktes und weil sich unter den Reisenden neben Touristen viele zahlungskräftige Geschäftskunden befinden, die für eine gleichmässige Auslastung übers ganze Jahr sorgen, ist London ein attraktives Ziel auch für die Eisenbahn. Das Problem: Eine Direktverbindung dorthin gibt es nicht. Das soll sich ändern.
SBB-Chef Vincent Ducrot sagte im März, dass die Bahn Direktzüge in die britische Metropole plane. Im Mai reiste Verkehrsminister Albert Rösti (SVP) nach London, wo er mit seiner britischen Amtskollegin Heidi Alexander eine Absichtserklärung unterzeichnete.
Die Hürden sind allerdings hoch. Grossbritannien ist kein Schengen-Mitglied. Das Land besteht darauf, dass das Einreiseprozedere nicht auf der Insel stattfindet, sondern an den Abfahrtsbahnhöfen. In Zürich, Basel oder Genf müssten deshalb Terminals gebaut werden. Zudem braucht es dort Personal für die flughafenähnliche Abfertigung. Hinzu kommt: Wegen unterschiedlicher Stromsysteme braucht es Züge, die für den Einsatz in mehreren Ländern ausgerüstet sind.
Doch die Chancen stehen besser als auch schon. Die Betreiberin des Kanaltunnels, die Getlink S.E., will mehr Wettbewerb und motiviert potenzielle Konkurrenten von Eurostar, neue Angebote auf die Beine zu stellen. Derzeit ist die mehrheitlich der französischen Bahn SNCF gehörende Eurostar die einzige Firma, die mit Personenzügen durch den Kanaltunnel fährt. Auch die Betreiberin des Bahnhofs St. Pancras in London will ihre Kapazitäten ausbauen, um neue Direktverbindungen nach Europa zu ermöglichen.
Zu den Interessenten für neue Züge gehört die VTE Holdings, eine Firma aus dem «Virgin»-Firmenimperium des britischen Unternehmers und Milliardärs Richard Branson. Vor Kurzem hat VTE beim britischen Office of Rail and Road (ORR) Zugang zu einem Depot im Osten Londons beantragt. Dieser gilt als Voraussetzung für das Anbieten von Zügen durch den Kanaltunnel.
VTE ist einer von derzeit drei Interessenten für das Depot. Nur einer soll den Zuschlag erhalten. Die britischen Behörden wollen voraussichtlich im Herbst entscheiden. Virgin werden gute Chancen eingeräumt, da die Gruppe über das nötige Kapital verfügt und einen konkreten Plan für die Beschaffung von Zügen hat.
Gegenüber der Behörde schreibt VTE, dass sie mit dem Hersteller Alstom ein Abkommen über die Lieferung von 12 sogenannten Avelia-Stream-Hochgeschwindigkeitszügen abgeschlossen habe. Mit diesen soll ab 2030 durch den Kanaltunnel gefahren werden, zunächst nach Paris, Brüssel und Amsterdam.
Die Züge könnten aber auch für den Einsatz in Deutschland und in der Schweiz ausgerüstet werden. Was aus den Unterlagen ebenfalls hervorgeht: VTE führte bereits Gespräche mit den SBB. Vincent Ducrot hat vor kurzem zwar bekannt gegeben, die Beschaffung eigener Hochgeschwindigkeitszüge zu planen, mit denen die SBB Ziele in Europa anfahren könnten. Gut möglich wäre im Fall von London aber auch, dass sich die SBB an den Kosten der Beschaffung von Partnern beteiligen würden. Im Idealfall wäre eine Verbindung ab Basel und Genf nach London künftig in fünf bis sechs Stunden machbar, ab Zürich in sechs bis sieben.
Gegenüber CH Media bestätigt eine VTE-Sprecherin, dass aktuell mit den SBB verhandelt werde, was die SBB allerdings dementieren. Die Inhalte dieser Gespräche seien geheim, weshalb sie zu diesem Zeitpunkt keine weiteren Details nennen könne. In den Unterlagen zuhanden der Behörden sind viele Passagen geschwärzt.
SBB-Sprecherin Sabrina Schellenberg sagt, die SBB planten, im Verlauf der 2030er-Jahre Direktverbindungen aus der Schweiz ab Zürich, Basel und Genf nach London anzubieten. «Für eine Direktverbindung wäre eine Kooperation mit einem Kooperationspartner wünschenswert», sagt sie. «Wir sind offen, wer dies ist, und wir sind mit potenziellen Partnerbahnen in Kontakt.» Mit VTE habe es einen Kontakt gegeben, derzeit fänden aber keine Gespräche mehr statt. Es ist also wahrscheinlich, dass die SBB mit Eurostar und anderen Firmen Gespräche führen.
Die Virgin Group, der Mischkonzern von Richard Branson, ist in Branchen wie Telekom, Musikindustrie und Aviatik tätig. Zudem gründete Branson die Virgin Galactic, die Flüge für Weltraumtouristen anbieten will. Das Vermögen des 75-Jährigen wird wird von «Forbes» auf 2,8 Milliarden Dollar geschätzt.
Seine Versprechungen für die neuen Züge durch den Kanaltunnel sind gross. Zuhanden der britischen Behörden schreibt er, es sei an der Zeit, den Kundinnen und Kunden «den Service zu bieten, den sie verdienen» und das 30-jährige Monopol von Eurostar zu beenden. Virgin werde den Markt «aufmischen» und einen Service bieten, der «innovativ, mutig und unverkennbar» sei. (aargauerzeitung.ch)