Europas Jugend wirkt verwirrt. Man kann es ihr nicht verdenken. Es war definitiv schon einfacher, jung zu sein. Laut einer im Frühjahr veröffentlichten Umfrage leidet ein Fünftel der 18- bis 29-Jährigen in der Schweiz an einer diagnostizierten psychologischen Erkrankung oder Störung. In anderen europäischen Ländern dürfte es ähnlich aussehen.
Die Gründe sind vielfältig: Eine Pandemie hat ihr Leben eingeschränkt, die Kriege in und nahe bei Europa, die geopolitischen Spannungen und die Klimakrise ängstigen viele. Hinzu kommt die wachsende Zahl alter Menschen, von deren Ansprüchen sich die Jungen bedrängt fühlen. Und auf TikTok und anderen Kanälen werden sie mit Videos «zugemüllt».
Kein Wunder, haben sich viele Junge bei der Europawahl für Rechtspopulisten mit ihren simplen Antworten auf komplexe Fragen entschieden. Aber eben nicht nur. In Deutschland hat der grösste Teil der 16- bis 24-Jährigen, nämlich 28 Prozent, obskure Kleinstparteien gewählt, etwa die proeuropäische Volt. Es ist ein Indiz für eine beträchtliche Verunsicherung.
In keinem Bereich ist sie so berechtigt wie in der Arbeitswelt. Dort ist eine Entwicklung im Gang, die nicht nur, aber gerade für junge Menschen zur enormen Herausforderung wird. Künstliche Intelligenz (KI) stellt vermeintliche Gewissheiten radikal infrage. So ist nicht mehr garantiert, dass permanente Aus- und Weiterbildung eine schöne Karriere ermöglichen.
Durch den Siegeszug der wirtschaftlichen Globalisierung nach dem Ende des Kalten Kriegs wurde diese Maxime mantraartig verbreitet. Für Menschen mit geringer Bildung hingegen werde es aufgrund der Automatisierung immer weniger Arbeit geben, hiess es. Komplett falsch war dies nicht: In vielen Fabrikhallen «arbeiten» fast nur noch Roboter.
KI jedoch stellt den Jobmarkt regelrecht auf den Kopf. «Jetzt trifft es die Hochqualifizierten», schrieb die «NZZ am Sonntag» im Frühjahr. Viele bequeme Bürojobs, die den Menschen ein angenehmes und gut bezahltes Leben ermöglichen, werden verschwinden. Während Handwerks- und Dienstleistungsberufe, die auf manueller Arbeit basieren, bleiben werden.
Es ist eine Umwälzung, die viele erst langsam realisieren. Zwar ist es nicht neu, dass repetitive Bürotätigkeiten wie Buchhaltung durch Algorithmen erledigt werden. Auch im Personalbereich sind längst automatisierte Programme im Einsatz, die Bewerbungen von älteren Leuten oft direkt aussortieren, ungeachtet ihrer Motivation und Qualifikation.
Das könnte sich ändern, denn KI ist lernfähig. Dadurch sind nicht nur Routinearbeiten bedroht, sondern auch komplexere Tätigkeiten. So wird KI schon eingesetzt, um Versicherungsbetrügern das Handwerk zu legen. Und noch sind viele Firmen am Experimentieren. Die ganz grosse Umwälzung der Berufswelt steht erst bevor.
Davon betroffen ist die KV-Lehre, die lange eine Art Garantie für einen sicheren und anständig bezahlten Job war. Gerade in diesen Berufen sei das Automatisierungspotenzial durch KI jedoch am höchsten, so die «NZZ am Sonntag» unter Berufung auf eine Studie des Beratungsunternehmens Accenture. Und selbst ein Hochschulstudium biete keinen Schutz.
Bei generativer KI stünden «die komplexen, hochqualifizierten und hochbezahlten Arbeitsbereiche» im Mittelpunkt, schrieb die Unternehmensberatung McKinsey in einer Studie vom letzten Jahr. Sie wird in zahlreiche Bereiche vordringen, von der Forschung über den Finanzsektor bis zur Justiz. Und Akademikern den Job wegnehmen.
Für die Betroffenen sei dies viel gravierender als eine normale Entlassung, sagte der Bildungsökonom Stefan Wolter von der Universität Bern der «NZZ am Sonntag». Man könne nicht mehr hoffen, bei einer anderen Firma eine gleichwertige Beschäftigung zu finden, weil ganze Berufskategorien «flächendeckend» verschwinden würden.
Selbst Kreativjobs, für die der menschliche Erfindungsreichtum unersetzlich schien, geht es an den Kragen. Das gilt für Marketing, Werbung oder Grafik. Es gibt KI, die quasi auf Knopfdruck Songs in jeder nur vorstellbaren Musikrichtung «komponiert». Schauspieler und Drehbuchautoren in Hollywood wussten ebenfalls genau, warum sie letztes Jahr streikten.
Über dieses Phänomen wurde zuletzt viel geredet und publiziert. Nur ansatzweise thematisiert wurde bislang die andere Seite: Ausgerechnet Berufe, für die man keine höhere Bildung benötigt, dürften auf absehbare Zeit «sicher» sein. Denn KI bedroht zumindest in einer ersten Phase die Denk- und nicht die Handarbeit. Dafür gibt es konkrete Beispiele.
So hat der Paketzusteller UPS den Abbau von 12’000 der insgesamt 85’000 Jobs im Bürobereich angekündigt. Die Kuriere sind nicht betroffen. Kein Wunder: Einsatz- und Routenplanung oder die Preisberechnung können automatisiert werden. Die Auslieferung der Ware aber kann keine KI vornehmen. Sie erfolgt immer noch durch Menschenhand.
Es gibt weitere Beispiele: Ladenkassen können durch Self-Checkout ersetzt werden, aber die Regale füllen sich nicht von selbst. Restaurants können auf Selbstbedienung umstellen oder Essen und Trinken per Roboter an die Tische befördern (das gibt es schon). Doch zubereitet werden muss es von Hand. Das gilt auch für Convenience Food.
Mehr noch: Ausgerechnet die «Dreckarbeit», für die wir verwöhnten Wohlstandsmenschen uns längst zu fein sind, bedarf weiterhin menschlicher Muskelkraft. Man braucht keine Architekten, um Häuser oder Brücken zu entwerfen, aber sie bauen sich nicht von selbst. Und wenn der Kehricht nicht mehr entsorgt wird, ist der Weg zur Anarchie nicht weit.
Es ist denkbar, dass sich dank KI irgendwann solche Jobs automatisieren lassen. Androiden erledigen die Müllabfuhr, und Roboter kochen selbst simple Gerichte in gleichbleibend hoher Gourmet-Qualität. Aber mittelfristig haben ausgerechnet Menschen mit einem «kleinen» Schulsack teilweise bessere Jobchancen als Hochschulabsolventen.
Was das für den Bildungsbereich oder Themen wie Migration bedeutet, ist bislang höchstens ansatzweise angedacht. Einige sehen bei KI primär die Chancen. Eine Psychologiestudentin erzählte mir kürzlich mit leuchtenden Augen, wie ChatGPT ihr das Studium erleichtere. In der Psychologie könnte der menschliche Faktor tatsächlich auch in Zukunft wichtig bleiben.
Primär aber dominiert die Befürchtung, dass der technologische Fortschritt die beruflichen Qualifikationen entwerten oder zum Verlust des Arbeitsplatzes führen wird, heisst es in einer Studie von Bildungsökonom Stefan Wolter. Arbeitnehmende seien zu einem Lohnverzicht von 20 Prozent bereit, wenn ihr Beruf weniger leicht wegrationalisiert werden könne.
Wolter stufte diese Zahl gegenüber der «NZZ am Sonntag» als sehr hoch ein. Sie zeigt vor allem, wie gross die Sorge ist. Doch was nützen 20 Prozent weniger Lohn, wenn KI den Job gratis erledigt, klaglos Überzeit macht und keine Ferien benötigt? Selbst Akademiker mit besten Qualifikationen stehen womöglich vor einer unsicheren Zukunft.
Experten verweisen darauf, dass Berufe schon früher durch Technologieschübe beseitigt wurden und gleichzeitig neue Jobs entstanden sind. Sie unterschätzen vielleicht, wie stark KI die Arbeits- und Wirtschaftswelt durchdringen wird. Für manche Bürolisten jedenfalls dürfte die Vorstellung, «Handarbeit» erledigen zu müssen, ein ziemlicher Graus sein.
Es erstaunt nicht, dass die Jungen verunsichert sind und andere wichtige Anliegen wie der Klimaschutz nicht mehr erste Priorität haben. Allerdings dürften sie bald merken, dass die rechten Parteien, die primär die Vergangenheit verklären, kein Rezept für diese Herausforderung haben. Politisch könnte das Pendel deshalb nach links ausschlagen.
Anliegen wie höhere Mindestlöhne (in mehreren Kantonen schon beschlossen), ein ausgebauter Kündigungsschutz oder Einfuhrzölle statt Freihandel könnten an Popularität gewinnen, glauben Fachleute wie Stefan Wolter. Der zunehmende Protektionismus und das Ja zur 13. AHV-Rente lassen sich womöglich als Vorboten dieser Entwicklung deuten.
"So ist nicht mehr garantiert, dass permanente Aus- und Weiterbildung eine schöne Karriere ermöglichen."
Da wird ein grosses Wischiwaschi-Mischmasch gemacht. Bildung ist nicht Aus- und Weiterbildung. Es gibt signifikante Unterschiede zwischen Bildung (wie zB. Mathematik, Physik, Geschichte, Literatur, Philosophie usw.) und Aus-/Weiterbildung (zB. Erlernern beruflicher Handfertigkeiten, wie zB. wie man eine Maschine bedient, ein Auto fährt, oder wie man mit Python programmiert, oder vor Gericht einen Prozess führt usw.).
Bildung hilft immer durch's Leben.