Kann KI wirklich kreativ sein? Ja, aber nicht so, wie du vielleicht denkst
«Nun ja, die KI-Systeme sind mittlerweile schon ziemlich gut – in manchen Bereichen sogar besser als Menschen. Aber kreativ wird die KI ja nie sein.» Diesen Satz – oder so ähnliche – hört man sehr oft in der Diskussion um das Potenzial von KI-Systemen. Ist dieser Fall denn wirklich so klar? Ist eine KI tatsächlich fundamental weniger kreativ als wir Menschen? Und überhaupt: Was meinen wir eigentlich, wenn wir sagen, etwas sei «kreativ»?
Was heisst denn schon «kreativ»?
Kreativ zu sein bedeutet gemäss Lexikon, etwas schaffen zu können, das sowohl neu als auch nützlich ist. Ideen, die zwar neu, aber nicht nützlich sind – zum Beispiel einen Stuhl aus nassem Brot zu bauen – verdienen somit genauso wenig das Label «kreativ» wie solche, die zwar nützlich sind, aber schon existieren – wie beispielsweise das Rad. Auch ist es klar, dass es unter allen kreativen Ideen verschiedenste Ausprägungen von Neuheit und Nützlichkeit gibt. Oft werden zwei grobe Kategorien von Kreativität unterschieden:
- «Small-c-creativity» (zu Deutsch etwa «Kreativität kleingeschrieben») ist die alltägliche Kreativität, die sich bei allen Menschen und in vielen Situationen wiederfindet. Beispiel: Die Strasse zum Bahnhof ist gesperrt und ich denke schnell einen anderen Weg aus. Neu und nützlich – also kreativ. Aber nicht genial.
- «Big-C-Creativity» («Kreativität grossgeschrieben») hingegen bezeichnet Kreativität, die ganze Felder dauerhaft verändert. Nicht bloss clevere Einfälle, sondern geniale, epochale Innovationen wie Darwins Evolutionstheorie oder Mozarts Klavierkonzerte.
Sowohl Small-c- als auch Big-C-Kreativität entstehen beim Menschen, indem er hinsichtlich eines ungelösten Problems Wissen aufbaut, darin neue Zusammenhänge entdeckt und bewertet – und schliesslich zu einer originellen Lösung gelangt. Aber wie ist es bei KI-Systemen? Funktioniert der Kreativitätsprozess hier genau gleich wie beim Menschen?
Menschliche vs. KI-Kreativität
Zuerst lasst uns Folgendes feststellen: Der oben beschriebene menschliche Kreativitätsprozess – Problemlösung durch das Neuverbinden bestehenden Wissens – ähnelt grob der Arbeitsweise generativer KI. Nämlich bekommen die KI-Systeme mit den Trainingsdaten zuerst ein grosses Rohwissen vermittelt, finden dann bisher unbeschriebene Assoziationen darin und kombinieren diese für das Generieren von Inhalten neu.
Jedoch bleibt diese Analogie zwischen menschlicher und KI-Kreativität oberflächlich: Im Gegensatz zu den Menschen generiert die KI Lösungen nämlich ausschliesslich innerhalb eines festgesetzten Rahmens und hinsichtlich extern definierter Zielkriterien. Sie geht ganz konsequent nur die Probleme an, welche ihr vorgegeben werden. Ein intrinsischer Antrieb zur Problementdeckung – quasi zur Erweiterung des Suchfeldes, welche im menschlichen Kreativitätsprozess eine wichtige Rolle spielt – fehlt ihr.
Trotzdem lässt sich nicht abstreiten, dass einige KI-Inhalte eindeutig der pragmatischen, outputorientierten Kreativitätsdefinition «neu und nützlich» genügen: Fordere ich ein KI-System auf, mir ein Bild von einem «Roboter auf einem Stuhl aus Brot» zu erzeugen, entsteht ein noch nie so dagewesenes (als ein neues), nicht vom Menschen im Detail beschriebenes (also mindestens teilweise originelles) und in Bezug auf den Prompt eindeutig nützliches Bild.
Solche Bilder verdienen also mit Fug und Recht das Label «Small-c-kreativ» – unabhängig vom genauen Prozess, der zu den Outputs führt. Und damit nicht genug: Einige KI-Aktionen stehen auf dem Small-to-Big-C-Spektrum nämlich eindeutig nicht mehr ganz bei «small». Ein Beispiel gefällig?
Zug 37 – wie KI das Spiel Go veränderte
Go ist eines der ältesten und komplexesten Brettspiele überhaupt – wesentlich komplexer als Schach – und wurde daher oft als der «Heilige Gral» der Spiele bezeichnet, die es für die KI zu erobern galt. 2016 trat das von Google DeepMind entwickelte KI-System AlphaGo gegen den 18-fachen Go-Weltmeister Lee Sedol an. AlphaGo wurde trainiert, indem das System Millionen von Partien gegen sich selbst spielte – und besiegte Sedol schliesslich klar.
Aber der Sieg per se war nicht mal das Bemerkenswerteste. Im zweiten Spiel des Matches machte AlphaGo einen Zug, der alle Fachleute in Erstaunen versetzte: Zug 37 war nämlich einer, den kein Mensch je gespielt hätte. Die Go-Expertinnen, welche die Partie verfolgten, hielten ihn zuerst für einen plumpen Fehler. Doch im Verlauf des Spiels zeigte sich, dass Zug 37 tatsächlich brillant und entscheidend für den späteren Sieg von AlphaGo war.
Sogar Sedol selbst anerkannte die Kreativität von AlphaGo und Zug 37: «Ich dachte, AlphaGo basiere nur auf Wahrscheinlichkeitsberechnung und sei lediglich eine Maschine. Aber als ich diesen Zug sah, änderte ich meine Meinung. Sicherlich ist AlphaGo kreativ.» Zug 37 war klar neu und sehr klar nützlich – sogar so sehr, dass er jahrhundertealte Lehrmeinungen zum Spiel Go herausforderte. Nahe an «Big-C-Kreativität», könnte man argumentieren.
Künstliche Intelligenz weist also eindeutig kreative Verhaltensmuster auf, die sich in der Entstehung aber genauso eindeutig von jenen der Menschen unterscheiden. Dies gilt übrigens auch für andere Systeme wie Märkte oder die Evolution: beide zeigen kreatives Problemlöseverhalten ohne intrinsische Zielorientierung.
Bevor wir nun aber in eine zu akademische Diskussion über die Parallelen und Unterschiede zwischen menschlicher und nicht-menschlicher Kreativität verfallen, lasst uns besser versuchen, beide sinnvoll zu verbinden.
Ko-Kreativität – kreativer dank KI
Wir können KI nutzen, um unseren eigenen Kreativitätsprozess zu unterstützen – also «ko-kreativ» sein mit der KI. Einige Ideen, wie dies funktionieren könnte:
- Mehr Ideen generieren: KI-Systeme sind exzellente Ideen-Brainstormer. Nutze sie, um in kniffligen Situationen möglichst viele Lösungsoptionen zu entwickeln – auch wenn manche davon auf den ersten Blick lächerlich sein mögen.
- Evaluieren von Optionen: Setze die KI als externe Begutachterin deiner kreativen Einfälle ein. Sie weiss sehr viel, gibt geduldig Feedbacks und ist immer objektiv – allerdings manchmal ein wenig zu schmeichelnd mit nicht so genialen Ideen. Fordere sie also explizit auf zu widersprechen.
- Vom «Zug 37» lernen: Versuche ab und zu, eingeschliffene Denkmuster bewusst zu verlassen – auch jene, auf die sich alle seit Jahrzehnten berufen. Stell also auch mal ketzerische Fragen zu den Grundannahmen eines Problems – dabei kann die KI ebenfalls helfen.
Damit wird es uns idealerweise gehen wie Lee Sedol, der vom famosen Zug 37 lernte, seine Spielstrategie anpasste und Spiel 4 gegen AlphaGo gewann – sowie auch jedes Turnier gegen Menschen in den Monaten nach dem AlphaGo-Match. Sein menschliches Potenzial wurde also durch die KI-Kreativität erweitert. Danach sollten wir streben.
- Das Ende des Internets? Warum so viel KI-Müll entsteht und wie wir ihn stoppen können
- Klimakillerin KI – was am Vorwurf dran ist und was nicht
- Apertus oder nicht? Was für und was gegen Open-Source-KI spricht
- Wie und wann die KI die Macht übernehmen kann – und unsere Optionen
- Die Lizenz zum Arbeiten: KI-Agenten und was sie mit James Bond zu tun haben
- Die KI-Landkarte – eine Orientierungshilfe im Buzzword-Dschungel
- Sorgt die KI wirklich für ein «Job-Blutbad»?
- Wieso uns die KI anlügt – und warum dies nicht nur schlecht ist
