Iboga: Die afrikanische Droge, die Sinnsuchenden und Drogensüchtigen helfen soll
Nachdem er am Donnerstagabend den ersten Löffel des braunen, grobkörnigen Pulvers geschluckt hatte, fühlte sich Samuel schwammig, taumelig und konnte die ganze Nacht nicht schlafen. Am Freitagmorgen nahm er erneut zwei Löffel der extrem bitteren Substanz, gewonnen aus der Wurzelrinde des westafrikanischen Strauchs namens Tabernanthe iboga. Kurz darauf übergab er sich zum ersten Mal an diesem langen Wochenende. «Es war extrem intensiv», erzählt Samuel.
Am Tag zuvor war er nach Deutschland in eine abgelegene Waldhütte zu einem mehrtägigen Iboga-Retreat gereist. Die Hütte war einfach eingerichtet, mit einer Matratze auf dem Boden und einer flauschig, warmen Decke darüber. Zur Begrüssung erhielten die zwölf Teilnehmenden, die nach Selbsterkenntnis, Heilung, Orientierung suchten, Gemüsesuppe und Früchte.
Der Ahnenkult
Samuel versprach sich Antworten: Was will er im Leben noch erreichen? Er hat das Lehrerdiplom, doch Erfüllung hat er im Beruf bislang nicht gefunden. Wie lässt sich die belastende Situation mit seiner Schwester lösen? Und wer ist er eigentlich, auch als Mann? Sein Vater starb, als er 15 war. Statt in der Jugend zu einem Vater aufschauen zu können, übernahm er früh selbst diese Rolle. Durch Iboga, so hoffte Samuel, könne er mit ihm in Kontakt treten.
Das ist auch die Absicht der Anhängerinnen und Anhänger des Bwiti-Kults aus Gabun, der Heimat des Ibogastrauchs. Seit Generationen essen Gläubige dort bei sogenannten Initiationen grosse Mengen der Wurzel, um unter anderem mit ihren Ahnen zu sprechen. Auch in der deutschen Waldhütte war es ein Nganga aus Gabun, der durch die Zeremonie führte, unterstützt von fünf Helferinnen und Helfern.
Nach zwei Dosen am Donnerstag und Freitagmorgen folgte am Mittag die dritte. Zunächst lohnte Samuel dem Nganga gegenüber diese Dosis ab. Sein Körper habe sich regelrecht dagegen gesträubt, er habe sich um seine Gesundheit gesorgt, so erzählt er. Doch der Nganga habe gesagt: «Iboga nimmt man nicht mit Freude.» Also nahm Samuel noch einen Löffel – und erbrach sich sofort wieder. Anderen Teilnehmenden erging es ähnlich.
Um die Einnahme zu erleichtern, mischten die Helfer das Pulver mit Honig. «Das macht den Geschmack etwas erträglicher», sagt Samuel. «Trotzdem musste ich nochmals richtig heftig erbrechen.»
Doch dann begannen die Visionen. «Vor vielen Sequenzen öffnete sich vor meinem inneren Auge etwas. Es sah aus wie ein geflochtenes Bündel, eine Puppe vielleicht», erzählt er. Solche bewusstseinserweiternden Episoden wechselten sich ab mit Phasen, in denen sein Geist klar war und anderen, in denen er wegdämmerte. Die meiste Zeit lag er seitlich auf der Matratze, beim Gang zur Toilette musste er gestützt werden.
Am Samstagmorgen – da hatte Samuel seit seiner Ankunft keine Sekunde geschlafen – zogen dunkle Gedanken auf, Erinnerungen, Schmerz. «Es war sehr starke Gefühle», sagt er. «Aber es fühlte sich reinigend an.» Geholfen habe ihm, alles wertefrei zu beobachten und sich auf den Atem zu fokussieren. In der Bwiti-Tradition heisst es, man durchlebe in der Zeremonie den eigenen Tod – und werde als neuer Mensch wiedergeboren.
Ukrainische Armee nutzt Iboga
Ibogain zählt zu den psychedelischen Substanzen wie LSD, Psilocybin oder Ayahuasca. Zwar bindet es im Gehirn an einen anderen Rezeptor als die anderen Psychedelika, doch sie alle verändern Bewusstsein, Wahrnehmung, Körpergefühl. Auch das Erbrechen kennt man vom südamerikanischen Trunk Ayahuasca. Doch: «Ibogain wirkt nicht nur im Gehirn, sondern auch auf das Herz-Kreislauf-System», sagt José Carlos Bouso, klinischer Psychologe und Forschungsdirektor einer Organisation, die sich auf die Erforschung von indigener Medizin spezialisiert hat. «Das kann zum plötzlichen Herzstillstand führen – im schlimmsten Fall zum Tod.»
Trotzdem sehen Bouso und andere Fachleute in der Substanz grosses Potenzial, um schwere psychische Störungen zu behandeln. In einer Studie wurde beispielsweise untersucht, ob Ibogain helfen kann, die Folgen von Hirntraumata – Depressionen, Angststörungen, posttraumatischem Stress – zu lindern.
Dreissig Veteranen von US-Spezialeinheiten, die extreme Einsätze überlebt hatten, erhielten einmalig die Behandlung. Das Ergebnis war bemerkenswert: Bereits nach wenigen Tagen besserte sich ihr Zustand deutlich, nach einem Monat waren die Symptome stark reduziert. Schwerwiegende Nebenwirkungen traten keine auf, wie die Forschenden der Universität Stanford im Fachmagazin «Nature Medicine» berichten.
Auch die ukrainische Armee experimentiert mit Ibogain. Soldaten, die an den seelischen Folgen des Krieges leiden, erhalten das Psychedelikum, um Traumata zu lindern und die Einsatzfähigkeit zu steigern.
Am meisten Aufmerksamkeit erhält die Substanz derzeit als potenzielles Mittel gegen Drogenabhängigkeit. Prominentestes Beispiel ist wohl Hunter Biden, der Sohn des US-Präsidenten, der in einer mexikanischen Klinik mit Ibogain gegen seine Drogensucht behandelt worden sein soll.
Heroin verliert den Reiz
Die Geschichte von Iboga als Anti-Droge beginnt im New York der 1960er-Jahre mit einem jungen Filmstudenten: Howard Lotsof. Er war 19 und schwer heroinabhängig, als ihm ein befreundeter Chemiker Ibogain reichte. 24 Stunden später merkte Lotsof: Sein Verlangen, seine Gier nach Heroin war verschwunden. Er verspürte keine Entzugserscheinungen. Lotsof gab die Substanz suchterkrankten Freunden. Viele machten ähnliche Erfahrungen wie er.
Er wurde zum Pionier, kämpfte jahrzehntelang für klinische Studien. 1994 erschien die erste Fallserie: Sieben Süchtige aus der Schweiz, Grossbritannien und den Niederlanden erhielten eine Einzeldosis Ibogain. Alle zeigten sofortige Linderung der Entzugssymptome, drei blieben mindestens 14 Wochen abstinent. Eine zweite Studie mit 33 Personen, die zum Teil jahrelang Heroin intravenös konsumiert hatten, bestätigte die Beobachtung. Doch eine Frau starb 19 Stunden nach der Behandlung, vermutlich durch Mischkonsum mit Heroin.
Kenneth Dürsteler, leitender Psychologe am Zentrum für Abhängigkeitserkrankungen der UPK Basel, hat kürzlich mit Kolleginnen eine Übersichtsarbeit zum aktuellen Stand der Ibogain-Forschung veröffentlicht. Darin sind über dreissig Todesfälle dokumentiert. «Und das ist nur, was publiziert wurde – die Dunkelziffer dürfte vermutlich höher sein», sagt Dürsteler.
Allerdings, sagt Dürsteler, lasse sich die Mehrheit der Todesfälle post mortem auf Vorerkrankungen zurückführen. «Viele litten bereits an Herzproblemen.» Andere starben nach Mischkonsum. Aber die kardialen Risiken seien real, auch deshalb ist Iboga in der Schweiz verboten.
Anders zum Beispiel in Spanien. Dort erforscht José Carlos Bouso Ibogain als Mittel gegen Methadonabhängigkeit. In seiner jüngsten Studie erhielten zwanzig Personen über sechs Wochen wöchentliche Dosen zwischen 100 und 600 Milligramm. Zwei Frauen mussten abbrechen, weil ihre Herzwerte kritisch wurden. Trotzdem seien die Ergebnisse «bemerkenswert»: «Viele der Teilnehmenden waren seit über zwanzig Jahren auf Methadon. Alle konnten ihre Dosis stark reduzieren, zwölf waren ein Jahr später ganz frei davon.»
Nun plant Bouso eine Folgestudie. Darin soll untersucht werden, ob es die Halluzinationen braucht, damit Iboga seine heilende Wirkung entfalten kann. Viele Fachleute glauben nämlich, dass die psychisch aufwühlenden Visionen zentral sind bei der Suchtbekämpfung: Sie könnten Betroffenen helfen, alte Muster zu durchbrechen und ihre Biografie neu zu betrachten.
Synthetisiertes Ibogain
Wie wichtig diese halluzinatorische Erfahrung ist, dürfte auch die Entwicklung künftiger Medikamente bestimmen. Wegen der schweren Herz- und Neurotoxizität der natürlichen Substanz werden seit einigen Jahren Analoga entwickelt, die ähnliche Wirkungen versprechen – aber ohne Herzrisiko und ohne Visionen. Kenneth Dürsteler nennt Tabernanthalog (TBG) als Hoffnungsträger. In Tierversuchen zeigten süchtige Mäuse nach der Einnahme weniger Verlangen nach Alkohol und Heroin.
In der Schweiz werden die Halluzinogene Ketamin und Psilocybin gegen Suchterkrankungen untersucht. Dürsteler würde es begrüssen, wenn dies auch mit Iboga geschehen würde, auch angesichts der wachsenden Crack-Kokain-Epidemie hierzulande. Denn während Heroinabhängige sich mit Methadon oder anderen Opioid-Agonisten behandeln lassen können, gibt es für Kokain und seine Varianten Crack oder Freebase keine vergleichbare Therapie. «Es existieren bislang keine Medikamente, die den Entzug oder das Verlangen zuverlässig lindern», sagt Dürsteler.
Wie genau Ibogain im Gehirn wirkt, ist noch nicht vollständig geklärt. Es sei eine sehr komplexe Substanz, sagt Kenneth Dürsteler. «Im Tiermodell sieht man eine Hochregulation neurotropher Faktoren durch Gliazellen – also eine Art Wachstumsreiz für Nervenzellen.» Daneben beeinflusse Ibogain das serotonerge und dopaminerge System, wirkt auf Glutamat- und Sigma-2-Rezeptoren, aber auch auf Opioid- und nikotinische Acetylcholinrezeptoren. Kurz: Es greift fast überall ein. «Aus diesen Angriffspunkten lässt sich durchaus eine plausible Wirkung bei Suchterkrankungen ableiten», sagt Dürsteler, «doch die Evidenzlage ist wirklich noch zu dünn.»
Weltweit existieren über 80 Zentren, die mit Ibogain behandeln – legal in Mexiko oder Portugal, illegal in vielen anderen Ländern. Würde Dürsteler seinen Patientinnen und Patienten einen solchen Aufenthalt empfehlen? «Nein», sagt er entschieden. «Die wissenschaftliche Evidenzlage ist dafür zu dünn.» Er warnt denn auch vor überhöhten Erwartungen, die Anbieter von Retreats und manche Medienberichte schüren: «Eine Sucht ist keine Krankheit, die man mit einem Pilleli weg schluckt. Sie verlangt Zeit, Arbeit und Begleitung nach dem Entzug.»
Wenn jemand es ausprobieren wolle, tue er es auf sein eigenes Risiko, betont Dürsteler. Er beobachtet die Rückkehr zu Naturheilmitteln generell mit Interesse und erkennt durchaus das spirituelle Potenzial dieser Substanzen: «Viele Menschen mit Suchtproblemen haben jede andere Identität verloren, sie definieren sich nur noch über den nächsten Kick. Eine Erfahrung, die Selbsterkenntnis fördert, kann da tatsächlich etwas in Bewegung setzen.»
Eine Extremerfahrung
In der Waldhütte in Deutschland ist es mittlerweile Samstagmittag geworden. Samuel und die anderen Teilnehmenden sollten zum Abschluss der Zeremonie beginnen zu tanzen, «um zu beweisen, dass man lebt». Denn man ist ja gerade durch einen symbolischen Sterbeprozess gegangen. Später gibt es Suppe, Früchte, am Abend ein gabunisches Festessen. Zum ersten Mal seit Tagen kann Samuel in der Nacht auf Sonntag schlafen. Am Morgen reist die Gruppe ab.
Noch Tage danach spürt Samuel die Nachwirkungen: die Müdigkeit, die innere Ruhe. «Ich nehme mich jetzt viel mehr wahr. Negative Gedanken haben nicht mehr so eine Chance», sagt er. Konkrete Antworten auf seine Fragen habe er zwar nicht erhalten. «Aber das ist okay. Die Arbeit beginnt jetzt – im Unterbewusstsein und der bewussten Auseinandersetzung mit den Themen.»
Und er, würde er Iboga anderen empfehlen? Samuel schüttelt den Kopf. «Es ist eine Extremerfahrung. Wahrscheinlich das Intensivste, was ich je gemacht habe», sagt er. Und nein, er würde niemandem raten, Iboga zum Spass oder aus Neugier zu nehmen. «Aber Menschen, die auf dem herkömmlichen Weg nicht mehr weiterkommen oder die unter schweren Suchterkrankungen leiden, kann ich es durchaus empfehlen, einmal auszuprobieren.» (bzbasel.ch)
