Hast du schon mal Stimmen in deinem Kopf gehört – aber ohne dass wirklich jemand mit dir gesprochen hat? Oder hast du schon mal Dinge gesehen, die in Wirklichkeit gar nicht da waren? Nun, du bist nicht der einzige.
Eine solche Erfahrung, die ohne einen äusseren Reiz auftritt, nennen Psychologen eine Halluzination. Der Begriff weckt Ängste, denn er wird meist mit psychotischen Störungen wie Schizophrenie in Verbindung gebracht. Tatsächlich kommen Halluzinationen bei mehreren Unterformen der Schizophrenie häufig vor, und es ist daher verständlich, dass jemand, der eine Halluzination erlebt, sich um seine geistige Gesundheit sorgt und sich die Frage stellt: «Verliere ich meinen Verstand?»
Doch Halluzinationen sind häufiger, als man denken würde – und sie sind nicht immer schwerwiegend. Dies zeigt zumindest eine neue Studie, die in der Fachzeitschrift «Psychology and Psychotherapy» veröffentlicht wurde: In der nicht-klinischen Gruppe der Testpersonen – also bei Menschen ohne psychische Erkrankung – hatte jeder sechste in seinem Leben schon einmal eine echte Halluzination erlebt.
Das Forscherteam um die Psychologin Charlotte Aynsworth vom Northumberland, Tyne and Wear NHS Foundation Trust trug Daten von 466 Personen mit einem Durchschnittsalter von 21 Jahren zusammen. Die Probanden füllten alle den sogenannten Multimodal Unusual Sensory Experiences Questionnaire (kurz MUSEQ) aus, in dem sie Aussagen wie beispielsweise «Ich habe Lichter, Blitze oder andere Formen gesehen, die andere Menschen nicht gesehen haben» mit Angaben aus einer Häufigkeitsskala von «nie» und «fast nie» über «selten» und «gelegentlich» bis hin zu «regelmässig» bewerten mussten.
Die Ergebnisse sind erstaunlich: Rund 85 Prozent der Teilnehmer sagten aus, dass sie bereits einmal eine abnorme visuelle Erfahrung gemacht hatten. Beinahe 38 Prozent gaben an, sie hätten eine echte Halluzination erlebt – ähnlich wie jene, die Patienten in einer Psychose erleben. Die Psychologen überprüften mittels zusätzlicher Fragen, ob die Erlebnisse tatsächlich der klinischen Definition einer visuellen Halluzination entsprachen – ob die Probanden also während der Halluzinationen bei vollem Bewusstsein waren oder nicht. 17,4 Prozent der Befragten, mehr als jeder sechste, erfüllten dieses Kriterium.
Weitere Befragungen durch das Forscherteam ergaben, dass die meisten Testpersonen eine Halluzination erlebten, wenn sie allein waren und es Abend war. Auf die Frage nach den möglichen Gründen für die Halluzinationen gaben die meisten Studienteilnehmer entweder an, sie seien müde gewesen, oder vermuteten, ihr Verstand habe ihnen «Streiche gespielt». Einige der Testpersonen sagten jedoch auch aus, sie empfänden die Halluzinationen als Bedrohung für ihre geistige Gesundheit und seien sehr beunruhigt darüber.
Dazu besteht kaum Anlass, wie die Studie zeigt. Da visuelle Halluzinationen sehr häufig vorkommen, bedeutet ein solches Erlebnis keineswegs, dass jemand sich in einer psychotischen Phase befindet oder eine psychische Krankheit hat. Das Forscherteam findet es daher angebracht, Halluzinationen anders zu betrachten: Da sie häufig und quasi normal seien, müssten die Menschen nicht so negativ darauf reagieren und sich nicht sofort Sorgen um ihre geistige Gesundheit machen. Heute scheue man sich oft, über solche Erlebnisse zu reden, dabei wäre es interessant und beruhigend, sich darüber auszutauschen. (dhr)