Rafi war damals zehn Jahre alt. Ein paar Tage davor hatte er in der Schule eine Zeitungspalme gebastelt – und diese hat ihn in der Nacht mitsamt ihren zottligen Haaren besucht.
Bis heute wird er etwa einmal im Monat von diesem Horror überfallen. Immer im Bett, immer kurz nach dem Einschlafen. Inzwischen sind die «Monster» mit ihm erwachsen geworden und zu schwarzen, humanoiden Wesen herangereift, die ihm ihre grässlich verzerrten Fratzen entgegenrecken. Und manchmal stechen sie ihm mit ihren spitzen Fingern in den Rücken, dass es weh tut.
Mediziner nennen dieses Phänomen Schlafparalyse: Der Körper ist im REM-Schlaf gelähmt, die Skelettmuskulatur ist unbeweglich, damit man die geträumten Bewegungen nicht ausführt. Das ist eine Art Schutzmechanismus. Nur erlebt man diesen Zustand im Normalfall nicht bewusst. Etwa acht Prozent der Gesamtbevölkerung aber kriegt das mit. Sie sind weder ganz wach noch schlafen sie voll, sie sind in einer Art Zwischenstadium, und in diesem fühlen sie die Lähmung ihres Körpers, haben in vielen Fällen sogar das Gefühl zu ersticken, weil sie ihre Atmung nicht spüren. Andere fühlen einen Druck auf der Brust, als ob dort etwas Schweres laste.
Das allein kann schon ziemlich beängstigend sein. Schlimmer wird es noch dadurch, dass 75 Prozent der Betroffenen unter zusätzlichen Halluzinationen leiden – und diese sind niemals erfreulich.
Der schweizerisch-englische Maler Johann Heinrich Füssli hat 1781 das berühmteste Werk geschaffen, das wir im Zusammenhang mit Schlafparalyse kennen. «Der Nachtmahr».
Der Nachtmahr, den man später auch Nachtalb nannte, war ein furchterregendes Fantasiewesen, das durch Schlüssel- oder Astlöcher ins Schlafzimmer seines Opfers eindringt. Dort hockt es sich auf den Schlafenden und quält ihn. Dank dieses nächtlichen Terrors wurde der Alb zum Gründungsvater des Alb-Traums.
Die Frau auf Füsslis Bild schläft, ihr Körper hängt schlaff über den Bettrand. Sie ist komplett hilflos, während der Mahr auf ihr drauf sitzt und den Betrachter anstarrt.
Lähmung, Wehrlosigkeit, Angst und der auf der Brust lastende Druck sind die bezeichnenden Merkmale, die sich bereits in den frühesten Beschreibungen von Schlafparalyse finden. Allerdings sprach man bis weit ins 19. Jahrhundert vom «Albtraum», der heute nur noch für einen bösen Trauminhalt steht und seine ganze lebendige Dimension verloren hat:
Solche nächtlichen Besuche von Dämonen, Geistern oder anderen Wesen sind quer durch die Jahrhunderte und rund um den Erdball überliefert.
Im antiken Griechenland sprach man zum Beispiel vom «pan-ephialtes». Pan war der unansehnliche Hirtengott, der zum Leidwesen seiner Mutter mit Ziegenfüssen, Ziegenhörnern und einem Bart zur Welt kam. Er ist die Personifikation der Natur, triebhaft und cholerisch. Verärgerst du ihn, jagt er dich, bis du vor Panik stirbst. In ihm findet sich die wahrscheinlich frühste Verbindung zwischen Schlafparalyse und Panik wieder. Im Mittelalter vermischt sich Pan mit dem Teufel, der auch oft mit tierischen Attributen dargestellt wurde.
Schlafparalyse hat die Menschen auf der ganzen Welt seit jeher beschäftigt. Ganz besonders die furchterregenden Halluzinationen, die in weniger wissenschaftlichen Zeiten stets eine religiöse oder volkstümliche Erklärung erfuhren. Was der Paralysierte im Schlaf halluziniert, ist stets abhängig von der Zeit, in der er lebt und der Kultur, die ihn umgibt. Und nicht zuletzt sind die nächtlichen Besucher geprägt von der Persönlichkeit des Betroffenen, seinem Alter, seinen Erfahrungen, seinem Wissen und Glauben. Waren es im Mittelalter noch Dämonen und Hexen, so sind es heute Aliens und Schattenmenschen.
Wovor hat der Mensch Angst? Ist seine Furcht vor gewissen Dingen angeboren oder kulturell bedingt? Sind es die Mythen und Glaubensinhalte, die die Form der Halluzinationen bestimmen, oder ist es genau umgekehrt? Was war zuerst, die Paralyse oder der Glaube?
Mit Sicherheit kann man solche Fragen nicht beantworten, aber man nimmt heute an, dass sich beide Seiten gegenseitig beeinflussen.
Der Incubus (ein männlicher Alb) verdankt seinen Namen dem lateinischen Verb «incubare», was so viel heisst wie «auf etwas draufliegen». Er ist der nachtaktive Dämon, der Frauen im Schlaf überfällt, manchmal auch vergewaltigt. Dem mittelalterlichen Glauben zufolge konnte die Frau dadurch schwanger werden. Oder vor Erschöpfung sterben.
Der «Hexenhammer» – dieses maliziöse Handbuch für die Hexenverfolgung – diskutiert den Besuch der Incubi im Zusammenhang mit der sexuellen Unersättlichkeit von Frauen. Sein weibliches Pendant – der Succubus – stiehlt seinerseits den Samen des Mannes. Ihn machte man für feuchte Träume verantwortlich – und er war der perfekte Sündenbock, wenn sich ein Mann der lasterhaften Masturbation schuldig gemacht hatte.
Man glaubte, dass der Hahn es vermöge, die Dämonen zu vertreiben. Das scheint nur logisch, weil er den im Schlaf Paralysierten aus seiner Misere herauskrähte.
In jedem Zeitalter findet sich die Vorstellung, dass einzelne Personen über mehr Macht als die Normalsterblichen verfügen. Ist es heute eine verschwörerische Regierung mit geheimem Wissen, waren es in manchen Ecken der Welt Schamanen mit einer Verbindung zur Geisterwelt – oder Hexen, die ihre schwarzmagischen Kräfte dafür einsetzten, ihren Mitmenschen Böses zu tun.
Im frühneuzeitlichen Europa fielen geschätzte 120'000 bis neun Millionen Menschen der Hexenverfolgung zum Opfer. Das war mehr als eine Vorstellung. Das war Massenhysterie. Und für einen kleinen Teil davon war die Schlafparalyse verantwortlich:
Da sind sie wieder, die wohl bekannten Merkmale der Schlafparalyse: Atemschwierigkeiten, Angst, Lähmung. Nur handelt es sich dieses Mal um eine Zeugenaussage in einem Hexenprozess.
Bridget Bishop wurde am 10. Juni 1692 gehängt.
Viele der Schlafparalyse-Ausdrücke – siehe das Beispiel in der obigen Liste aus China – «guai chaak», vom Geist heruntergedrückt werden – verweisen direkt auf ein Geisterwesen.
Der Glaube an die Existenz solcher Erscheinungen ist so alt wie die Menschheit selbst und findet auch heute noch seine Anhänger. Denn er ernährt sich von vielem: In manchen Kulturen vom Animismus oder der Ahnenverehrung, in unseren Breitengraden vielleicht mehr von der Angst vor dem Ungewissen und dem Tode, der Vorstellung eines Weiterlebens nach diesem und manchmal auch von der verzweifelten Hoffnung, ein geliebter Verstorbener sei doch noch in irgendeiner Weise auf dieser Welt verblieben.
Dass Menschen mit Schlafparalyse kürzlich verstorbene Freunde oder Verwandte halluzinieren, kommt sehr oft vor. Nur sind diese Besuche fast ausschliesslich furchterregend. Ein Betroffener berichtet, dass der Geist seines Vaters mit fremder Stimme sprach und ihm seinen baldigen, gewaltsamen Tod prophezeite.
Auch von Schattenmenschen (engl. «Shadow People») erzählen viele Betroffene. Diese Wesen scheinen den Tod bereits hinter sich gebracht zu haben, sie sind der schemenhafte Rest ihrer einstigen Existenz. Manche glauben, sie seien die reisenden Seelen der Toten, andere halten sie für Gestalten aus einer anderen Dimension.
Jedenfalls sind sie das Produkt unserer dunkelsten Ängste.
Der Dämon der alten Welt hat allmählich ausgedient. Die Menschen des 21. Jahrhunderts halluzinieren in ihren Schlafparalysen moderne Monster. Und manchmal kommen sie nicht einmal mehr von dieser Welt.
Von Alien-Besuchen wird immer wieder berichtet. Dass ausserirdische Lebensformen den Weg in unsere Köpfe finden, ist nicht weiter erstaunlich. Unser Sonnensystem ist nicht das einzige im unendlichen Universum. Allein in der Milchstrasse gibt es zwischen 200 und 400 Milliarden Sterne und sie ist wiederum nur eine von mehr als 100 Milliarden Galaxien. Irgendwo da draussen gibt es vielleicht intelligentes Leben.
Eine Umfrage hat 2002 ergeben, dass 1,4 Prozent der US-Bevölkerung – das sind rund fünf Millionen Menschen – glauben, mindestens vier der fünf Anzeichen für eine Alien-Entführung erlebt zu haben. Doch manche von ihnen haben vielleicht auch einfach eine Schlafparalyse erlitten:
Wehrlosigkeit: Die Opfer schildern, dass sie an ein Bett oder einen Tisch gebunden werden, oder durch unbekannte Methoden der grauen Gestalten ihrer Willenskraft beraubt werden. Sie erfahren sich als komplett hilflos und von aussen kontrolliert.
Experimente: Viele Betroffene berichten von schmerzhaften Untersuchungen. Das besondere Interesse der Aliens gelte den Geschlechtsteilen der Entführten. Sperma und Eizellen würden entnommen, manchmal komme es sogar zu Vergewaltigung.
Diese sexuelle Komponente erinnert stark an die Beschreibung der Incubi und Succubi, der nachtaktiven Dämonen, die sich ebenfalls an ihren Opfern vergehen. Nur ist das Setting bedeutend moderner, die Aliens arbeiten mit metallenem OP-Besteck und dünnen Sonden, die sie in die Körperöffnungen ihrer Opfer einführen.
Das Halluzinieren einer Vergewaltigung widerfährt vermehrt Menschen, die ein solch traumatisches Erlebnis auch tatsächlich erlebt haben: In einer 2005 herausgegebenen Studie mit kambodschanischen Flüchtlingen berichtet eine Frau von ihrer Schlafparalyse, in der sie ein Roter Khmer gefoltert und misshandelt hatte.
Der Glaube, persönliche Erlebnisse und Traumata haben also einen grossen Einfluss auf den Inhalt der nächtlichen Halluzinationen. Und nicht zuletzt formt auch die Kunst die Schlafzimmer-Eindringlinge.
Oder ist es sogar umgekehrt?
So verschieden diese grausigen Erscheinungen auch sein mögen, sie alle haben etwas gemeinsam. Sie kommen in unserem schwächsten Moment.
Wenn wir schlafen.
Das Niederstarren der schauderhaften Erscheinungen ist eine der Methoden, die Rafi sich antrainiert hat, um die Monster zu vertreiben. Allerdings kostet dies jedes Mal enorme Überwindungskraft. Es ist ein Kampf gegen die eigene Angst. Das Schreien gelingt den meisten Betroffenen nicht, die Lähmung lässt in 50 Prozent der Fälle nur ein schwaches Röcheln oder Stöhnen zu. Manche versuchen mit viel Willenskraft, einen Zeh oder einen Finger zu bewegen, um sich aus ihrer Paralyse zu befreien.
Um sie gänzlich zu vermeiden, hilft es, nicht auf dem Rücken zu schlafen. Die Seitenlage macht einen Anfall vier Mal unwahrscheinlicher.
Es scheint, als ob der Körper der panischen Angst, die er fühlt, Sinn verleihen will:
Am Anfang ihrer Paralyse spüren die Betroffenen stets irgendeine Präsenz im Zimmer. Dann folgt die Angst. Für diese Emotion ist das limbische System im Gehirn verantwortlich – genauer die Amygdala, ein mandelförmiger Kern im rechten und linken Temporallappen. Sie wird aktiviert, wenn Gefahr droht, sie analysiert die Lage, scannt die Umgebung und ist darauf ausgerichtet, dem Organismus das Überleben zu sichern.
Da die Quellen der Bedrohung aber im Falle der Schlafparalyse in Wirklichkeit fehlen, halluziniert sie das Gehirn herbei: Auf der drückenden Brust hockt ein abscheuliches Wesen, man hört die Schritte eines Schattenmenschen näher kommen, oder aus der Decke ragt plötzlich ein langer, schwarzer Arm.
Die Gefahr ist vor den Augen des Träumenden zu seiner schonungslosen Realität geworden.