Ihr Name ist Rita Leggett, sie ist 62 Jahre alt und lebt in Australien. Sie leidet an einer schweren chronischen Form von Epilepsie, die bei ihr diagnostiziert wurde, als sie drei Jahre alt war. Heftige Anfälle aus heiterem Himmel gehörten zu ihrem Alltag. Bis sie 49 war – dann erhielt sie ein Gehirn-Implantat, das ihr Leben zum Besseren veränderte.
So weit könnte Leggetts Fall ein schönes Beispiel für die Segnungen der Technik in der Medizin sein. Leider illustriert ihre Geschichte aber einen Alptraum aus wirtschaftlichen Zwängen. Und er wirft die Frage auf, über welche Rechte Patienten mit solchen Implantaten verfügen sollen. Denn Leggetts Implantat wurde wieder entfernt, nachdem die Firma, die es hergestellt hatte, Konkurs gegangen war.
Die ethischen Fragen, die Leggetts Fall aufwirft, sind Thema einer Studie, die am 1. Mai im Fachmagazin «Brain Stimulation» erschienen ist. Ihre Autoren sind Frederic Gilbert, Neuro-Ethiker an der Universität von Tasmanien, der Leggett über Jahre hinweg begleitet und regelmässig mit ihr über ihr Befinden gesprochen hat, der Neuro-Ethiker Marcello Ienca, der zeitweise auch an der ETH Zürich lehrte, und Mark Cook, Neurologe an der St. Vincents-Klinik in Melbourne. Leggett erscheint in der Studie als «Patient R».
New paper w Frédéric Gilbert (@UTAS_) & Mark Cook (@UniMelb) out open access in @brainstimj.
— Marcello Ienca (@MarcelloIenca) May 9, 2023
We report on what to our knowledge is the first case of #agency discontinuity due to #BCI explantation & reflect on the #neurorights implications thereof 1/4https://t.co/6cpL0ETKiz
Bevor sie ihr Implantat erhielt, führte Leggett ein stark eingeschränktes Leben. Da die schweren Epilepsie-Anfälle – im Schnitt etwa drei jeden Monat – ohne Vorwarnung auftraten, wagte sie sich kaum noch in die Öffentlichkeit. «Sie konnte nicht mehr allein in den Supermarkt gehen, und sie ging kaum noch aus dem Haus», sagt Gilbert. «Es war verheerend.» Obwohl sie sich im Laufe der Jahre einer Vielzahl unterschiedlicher Behandlungen unterzogen hatte, verbesserte sich ihr Zustand nicht.
Doch dann kam ihre Chance: Leggett wurde 2010 für eine klinische Studie eines australischen Forschungsteams rekrutiert. Getestet wurde die Wirksamkeit eines Geräts der Firma Neurovista, das Patienten mit Epilepsie vor bevorstehenden Anfällen warnen sollte. Leggett unterzog sich einem chirurgischen Eingriff, bei der ihr vier Elektroden implantiert wurden, die ihre Gehirnaktivität überwachten. Die Signale wurden an ein tragbares Gerät gesendet, das mit einem Algorithmus die Wahrscheinlichkeit eines Anfalls in der nahen Zukunft berechnete und mittels unterschiedlicher Lämpchen anzeigte.
Die Anzeige eines bevorstehenden Anfalls gab Leggett die Möglichkeit, rechtzeitig ein prophylaktisches Medikament wie Clonazepam einzunehmen. Der Erfolg war durchschlagend: Während andere Studienteilnehmer unterschiedliche Erfahrungen machten, sank bei ihr die durchschnittliche Anzahl der Anfälle pro Monat von drei auf null. Damit gewann Leggett erstmals die Kontrolle über ihr Leben. In den Gesprächen mit Gilbert, die sie in den Jahren nach dem Eingriff führte, sagte sie: «Ich hatte das Gefühl, dass ich alles tun kann. ... Ich konnte Auto fahren, ich konnte Leute treffen, ich war eher in der Lage, gute Entscheidungen zu fällen – und nicht schlechte.»
Leggett empfand das Gerät sogar als Teil ihres Selbst. Sie habe sich sofort mit ihm verbunden: «Mit Hilfe der Wissenschaft und der Techniker wurden wir eins.» Sie sei eine neue Person geworden. Die Studienautoren beschreiben es als symbiotisches Verhältnis: Die Patientin habe vom Algorithmus profitiert, der ihr half, bevorstehende Anfälle zu erkennen, während der Algorithmus wiederum die Daten ihrer Gehirnaktivität dazu genutzt habe, seine Voraussagen genauer zu machen.
Doch Leggetts neue Lebensqualität war nicht von Dauer. 2013 geriet Neurovista – die Firma, die das Gerät hergestellt hatte – in finanzielle Schwierigkeiten und ging pleite. Heute gibt es das Unternehmen nicht mehr. Den Teilnehmern der klinischen Studie riet man, die Implantate entfernen zu lassen. Leggett wehrte sich dagegen und versuchte, das Implantat zu behalten – sie und ihr Ehemann wollten sogar eine Hypothek auf ihr Haus aufnehmen, um das Gerät zu kaufen. Vergeblich. Leggett war die letzte Person aus der klinischen Studie, der das Implantat entfernt wurde.
In Gesprächen mit Gilbert, die nach der Entfernung des Implantats stattfanden, verlieh Leggett ihrer Enttäuschung Ausdruck und beschrieb den Verlust ihrer Lebensqualität: «Ich wünschte, ich hätte es behalten können – ich hätte alles getan, um es zu behalten. ... Ich hätte Geld bezahlt. Ich hätte alles getan, wenn ich gekonnt hätte.»
Sie sei nicht mehr die fröhliche, aufgeschlossene und selbstbewusste Frau, die sie einmal gewesen sei. «Bis zum heutigen Tag habe ich mich nie wieder so sicher und geborgen gefühlt. ... Ich werde immer noch emotional, wenn ich an mein Gerät denke und darüber spreche, und ich vermisse die Sicherheit, die es mir gibt, schrecklich.» Sie habe viel geweint: «Sie haben mir den Teil von mir genommen, auf den ich mich verlassen konnte ...»
Um Verständnis für ihre Gefühle zu wecken, verglich Leggett ihr Gerät mit einem Mobiltelefon: «Wir benutzen Mobiltelefone jeden Tag, wir sind ständig auf sie angewiesen. Die Menschen hängen mehr an diesen Dingen, als ihnen bewusst ist, und denken sich nichts dabei! Warum sollte es dann so seltsam sein, dass ich selbst so sehr an [dem] Gerät hänge und das Gefühl habe, dass wir eins geworden sind, und ich mich sicher und geborgen fühle? Warum sollte ich dann nicht den Verlust von etwas betrauern, das mir das sicherste Gefühl gab, das ich mir je hätte vorstellen können?»
Die Studienautoren schreiben, Leggetts Fall zeige, wie sich die Erfahrung mit einem solchen BCI («Brain-Computer-Interface», dt. Gehirn-Computer-Schnittstelle) radikal auf das Selbstverständnis und die Selbstwahrnehmung des implantierten Patienten auswirken könne. Die Entfernung des Implantats stelle dann eine Form der Veränderung des Selbst dar. «Dies ist unseres Wissens der erste Beweis für dieses Phänomen», stellt Ienca dazu fest.
Und wenn es Beweise dafür gebe, dass ein solches Gerät Teil des Selbst des Menschen werden könne, dürfe einzig medizinische Notwendigkeit ein hinreichender Grund dafür sein, um einer Person ein BCI ohne ihre Zustimmung zu entfernen. «Wenn das ein Bestandteil der Person ist, dann entfernt man im Grunde etwas, das für die Person konstitutiv ist, gegen ihren Willen», argumentiert Ienca, der dies mit der erzwungenen Entnahme von Organen vergleicht, die nach internationalem Recht verboten ist.
Die Neuro-Ethiker stellen eine Reihe von ethischen und rechtlichen Fragen zur Diskussion, darunter folgende: «Welche moralischen Rechte und welchen rechtlichen Schutz kann man implantierten BCI-Nutzern gewähren, damit sie weiterhin Zugang zu den therapeutischen Vorteilen haben, die nur durch eine dauerhafte und sichere Nutzung des Geräts möglich sind? Haben Unternehmen oder medizinische Teams die moralische Verpflichtung, eine postoperative ‹neue Person› zu erhalten, die aus einer erfolgreichen Implantation eines KI-Geräts im Gehirn hervorgeht?»
Eine relevante ethische Frage sei auch, ob die Firma nicht der Erhaltung der ‹neuen Person› hätte Priorität einräumen müssen und ihre Einwände und ihren Widerstand gegen die Entfernung des Implantats hätte respektieren müssen. Das Unternehmen sei dafür verantwortlich, eine neue Person geschaffen zu haben. Sobald das Gerät entfernt wurde, sei auch die Existenz dieser Person beendet worden. Die Entfernung des Implantats könnte als Verletzung von Menschenrechten gesehen werden, sagt Ienca.
Ienca, der zurzeit an der Technischen Universität München lehrt, hat bereits vor knapp zwei Jahren in einem Beitrag zur Reihe «Zukunftsblog» der ETH Zürich vier neue Menschenrechte postuliert – er nennt sie «Neurorechte»:
Leggetts Fall ist nicht der einzige. Er erinnert an einen ähnlichen Vorfall, als die Firma Second Sight Medical Products, die mehr als 350 Menschen bionische Sehprothesen implantiert hatte, die Unterstützung ihrer Technik einstellte und die Patienten ihrem Schicksal überliess. Noch mehr Ähnlichkeit mit Leggetts Erfahrungen weist der Fall von Ian Burkhart auf, der nach einer Rückenmarksverletzung ein experimentelles Hirnimplantat erhielt, das ihm erlaubte, die Beweglichkeit seiner Hände teilweise zurückzugewinnen.
Burkhart, dessen Geschichte ein Artikel im «MIT Technology Preview» schildert, hatte mit 19 Jahren bei einem Tauchunfall eine schwere Verletzung des Rückenmarks erlitten, die ihn nahezu zum Tetraplegiker machte. Er konnte seine Arme ein kleines bisschen bewegen, nicht aber seine Hände. Vor neun Jahren stiess er auf eine klinische Studie für ein Gehirnimplantat, an der er freiwillig teilnahm.
Ihm wurde ein Set von 100 kleinen Elektroden im Gehirn implantiert, das die Gehirnaktivität aufzeichnete und über einen Draht, der aus seinem Kopf führte, an einen Computer schickte. Dieser wiederum war mit einer Elektrodenmanschette an Burkharts Arm verbunden, die elektrische Signale abgab. Das Ziel bestand darin, Gedanken an Bewegung in elektrische Signale zu übersetzen, die entsprechende Bewegungen auslösen.
Nachdem er sich vom Eingriff erholt hatte, begann er ein Trainingsprogramm, um sich an den Umgang mit dem Implantat zu gewöhnen. Während anderthalb Jahren übte er dreimal pro Woche in einem Labor, seine Finger zu bewegen. Mit der Zeit schaffte er es, seine Finger individuell zu bewegen. Er konnte beispielsweise eine Flasche greifen und ausleeren. Allerdings waren seine neuen Fähigkeiten auf seine Sitzungen im Labor beschränkt, da die notwendige technische Infrastruktur nur dort vorhanden war. Dennoch gewann er an Selbstvertrauen und das Implantat gab ihm Hoffnung für die Zukunft, wie er dem «MIT Technology Review» sagte.
Doch 2021, gut sieben Jahre nach Beginn der Studie, musste Burkhart das Implantat wieder entfernen lassen. Dies lag zum einen daran, dass die Mittel zur Finanzierung des Programms allmählich versiegten, zum anderen an einer Infektion an der Stelle, wo das Kabel aus seinem Kopf trat. Der Verlust des Implantats und der damit verbundenen Fähigkeiten traf ihn hart. «Ich wusste, dass das Gerät irgendwann einmal herauskommen musste», sagte er. «Aber ich wusste nicht, wie es sich anfühlen würde. ... Ich würde sagen, dass ich bis zu einem gewissen Grad ein Gefühl für mich selbst verloren habe.»
Burkhart schlägt vor, dass Firmen, die solche Geräte anbieten, mehr Verantwortung dafür tragen sollten. So sollten sie finanzielle Mittel bereitstellen, um zumindest die laufende Wartung der Geräte sicherzustellen und diese erst dann zu entfernen, wenn der Patient dazu bereit ist. Die BCI Pioneers Coalition, ein digitales Forum von Patienten, die eine Hirn-Computer-Schnittstelle erhalten haben, schlägt in dieselbe Kerbe. Sie setzt sich dafür ein, dass Firmen verpflichtet werden, eine Art Fonds einzurichten, dessen Mittel zur Unterstützung und Betreuung von Patienten verwendet werden, wenn klinische Versuche wie im Fall von Leggett abgebrochen werden. Auch Studienautor Ienca schlägt eine Art obligatorische Versicherung für Unternehmen vor, damit Wartungskosten auch über das Ende einer klinischen Studie hinaus abgedeckt sind.
Sicher ist, dass solche Fragen in Zukunft durch den technologischen Fortschritt an Dringlichkeit zunehmen werden. Wie in anderen Lebensbereichen auch wird dieser Fortschritt neue Möglichkeiten eröffnen, die ihrerseits neue, noch nie dagewesene Probleme nach sich ziehen können. Wie Ienca in seinem Blogbeitrag zu bedenken gibt, befinden wir uns stets in einem Dilemma, wenn es um neue Technologien geht: Ihre sozialen Folgen sind nicht vorhersehbar, solange sie noch nicht ausgereift sind. Und wenn dann unerwünschte Folgen entdeckt würden, schreibt Ienca, sei die Technologie oft schon so sehr in der Gesellschaft verankert, dass es äusserst schwierig ist, sie noch zu kontrollieren.
Daher sei es für Wissenschaft und Politik eine Herausforderung, dafür zu sorgen, dass solche dringend benötigten Innovationen nicht missbraucht, sondern zum Wohl der Menschen eingesetzt werden. Und dies müsse verantwortungsvoll und im Einklang mit ethischen und gesellschaftlichen Werten geschehen.
So viele offenen Fragen, die hier im Artikel nicht beantwortet werden, obwohl das wichtige Informationen werden. Kontext eben
Es braucht hierzu klare gesetzliche Grundlagen. Dafür müssten aber die meisten Politiker weltweit ihren Stolz auf die Seite legen und mal auf Technik-Experten hören und auch gemäss ihren Ratschlägen Gesetze entwerfen und nicht gemäss Konzernlobbyisten.