Die Nachricht aus Israel lässt unwillkürlich an Mary Shelleys berühmten Roman «Frankenstein» denken. Oder an «Never Let Me Go» («Alles, was wir geben mussten», 2010), einen Science-Fiction-Film über geklonte Kinder, die als Ersatzteillager für Organe heranwachsen. Der Durchbruch, den Forscher des Weizmann Institute of Science in Rehovot am 1. August in der Fachzeitschrift «Cell» vermeldeten, könnte am Anfang einer Entwicklung stehen, die ungeahnte medizinische Möglichkeiten eröffnet, aber auch schwerwiegende ethische Fragen aufwirft.
Worum geht es? Bei der sexuellen Fortpflanzung entsteht neues Leben, wenn ein Spermium eine Eizelle befruchtet. Das ist bei Mäusen genau so der Fall wie beim Menschen. Den Stammzellbiologen um Forschungsleiter Jacob Hanna ist es jedoch gelungen, künstliche Mäuse-Embryos, sogenannte Embryoide oder synthetische Embryos, einzig aus Stammzellen herzustellen – ganz ohne Eizellen, ganz ohne Spermien. Und auch ohne Gebärmutter: Die Mäuse-Embryos wurden in einem mechanischen Uterus gezüchtet.
In a Weizmann Institute of Science study published in Cell, researchers led by Prof. @jacob_hanna have grown synthetic embryo models of mice outside the womb by starting solely with stem cells cultured in a petri dish – without the use of fertilized eggs>> https://t.co/MU3TnLGsfT pic.twitter.com/FNQyWaqXL4
— Weizmann Institute (@WeizmannScience) August 2, 2022
Die künstlichen Embryos, die aus Hautzellen von Mäusen wuchsen, entwickelten sich maximal 8,5 Tage lang normal; mithin etwas weniger als die Hälfte der natürlichen Schwangerschaft einer Maus, die 20 Tage dauert. Bis dahin hatten sich Frühstadien verschiedener wichtiger Organsysteme gebildet, etwa ein schlagendes Herz, ein Gehirn, ein Darmtrakt, ein Neuralrohr und eine Zirkulation von Blutstammzellen.
Hinsichtlich ihrer inneren Struktur und ihrer genetischen Zellprofile waren die künstlichen Embryos zu 95 Prozent identisch mit natürlichen. Wie Studienleiter Hanna aber betonte, besitzen sie nicht das Potenzial, sich zu lebenden Tieren zu entwickeln. Selbst jene künstlichen Embryos, die sich am längsten entwickelten, wiesen am Ende Anomalien auf, weil sie – möglicherweise aufgrund der unzureichenden Blutversorgung – nicht mehr weiter wachsen konnten.
Die künstlichen Embryos entwickelten sich auch dann nicht weiter, wenn sie in die Gebärmütter von Mäuseweibchen transplantiert wurden. Überdies war die Erfolgsquote sehr gering: Von den 10'000 entnommenen Zellen fügten sich nur 50 – also 0,5 Prozent – zu kleinen Kugeln zusammen und entwickelten dann embryonale Strukturen.
Die Forscher griffen bei ihrem Experiment auf frühere Erkenntnisse zurück, wie aus einer Mitteilung des Weizmann Institute hervorgeht. So war bereits bekannt, wie sich reife Zellen wieder in pluripotente Stammzellen – aus denen beliebige Zellen und daher auch Organe entstehen können – transformieren lassen. Die Wissenschaftler, die diese zelluläre Rückprogrammierung erforscht hatten, waren 2012 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet worden. Freilich war es bisher nicht möglich gewesen, aus solchen reprogrammierten Stammzellen brauchbares Gewebe zu bilden.
Hanna und sein Team fanden eine Methode, die Stammzellen in einen «naiven» Zustand – also in ihr frühestes Stadium – umzuprogrammieren. In diesem Zustand haben Stammzellen das grösste Potenzial, sich in verschiedene Zelltypen zu spezialisieren. «Bisher waren die spezialisierten Zellen schwer herzustellen und sie neigten dazu, einen Mischmasch anstelle von gut strukturiertem Gewebe zu bilden, das für eine Transplantation geeignet wäre. Wir haben es geschafft, diese Hürden zu überwinden, indem wir das in den Stammzellen kodierte Selbstorganisationspotenzial freigesetzt haben», erklärt Hanna.
Auch die mechanische Gebärmutter, die das Forschungsteam nutzte, beruhte auf mehrjährigen Vorarbeiten im Labor. Das elektronisch gesteuerte Gerät, das die Wissenschaftler 2021 in einem Artikel in «Nature» beschrieben, simuliert den natürlichen Zufluss von Nährstoffen durch die Plazenta, indem es die Glasbehälter mit Nährlösung, in der die Zellen schwimmen, ständig in Bewegung hält.
Der Sauerstoffaustausch und der atmosphärische Druck werden in der mechanischen Gebärmutter genau geregelt. Das Team hatte das Gerät zuerst mit natürlichen Mäuse-Embryonen erprobt, die sich ausserhalb der Gebärmutter vom fünften bis zum elften Tag darin entwickelten.
Die von den Forschern entwickelte Methode eröffnet neue Möglichkeiten, die Bildung verschiedener Organe aus Stammzellen im Embryo zu untersuchen und die frühe Embryonalentwicklung besser zu verstehen. Dies könnte dazu beitragen, Fehlentwicklungen während dieser Phase zu vermeiden. Das Forschungsteam hofft überdies, dass sich durch den Einsatz synthetischer Embryos die Zahl der Tierversuche verringern liesse.
Vor allem aber könnte die Methode künftig die zielgerichtete Züchtung von komplexen Geweben und Organen für Transplantationen ermöglichen. Es ist heute zwar bereits möglich, einfache Gewebetypen wie Knorpel oder Knochen zu züchten, doch bei komplexeren Zelltypen und Organen hat sich dies als sehr schwierig erwiesen.
Wissenschaftler, die nicht an der Forschung mitgewirkt haben, warnen allerdings davor, die gezüchteten Zellstrukturen als Embryos zu bezeichnen. «Das sind keine Embryos», sagte etwa der französische Stammzellforscher Laurent David laut der Nachrichtenagentur SDA. Nach dem derzeitigen Forschungsstand entstehe aus solchen Strukturen «kein lebensfähiges Individuum, das sich fortpflanzen kann», erklärte David, der die Arbeit der israelischen Forscher im Übrigen trotz seiner Skepsis als «sehr überzeugend» wertet.
Der aufsehenerregende Durchbruch in der Forschung mit künstlichen Embryos ruft aber auch Warner auf den Plan. Bernard Siegel, ein Patientenvertreter und Gründer des World Stem Cell Summit, sagte dem renommierten Wissenschaftsmagazin MIT Technology Review, dieses Experiment habe enorme Auswirkungen. «Man fragt sich, welches Säugetier als nächstes an der Reihe sein könnte.»
Wenn es nach Hanna geht, wird es der Mensch sein. Der Forscher hat bereits ein Start-up – Renewal Bio – gegründet, um die von ihm entwickelte Methode für therapeutische Zwecke zu nutzen. Hanna will in einer nächsten Reihe von Experimenten sein eigenes Blut oder seine Hautzellen – sowie Zellen von einigen Freiwilligen – verwenden, um damit synthetische Embryos herzustellen. Diese werden genetische Klone von ihm selbst sein.
Der Forscher hofft, dass die künstlichen Embryos schliesslich einen Entwicklungsstand erreichen, der demjenigen nach 40 bis 50 Tage Schwangerschaft entspricht. In diesem Stadium werden grundlegende Organe sowie winzige Gliedmassen und Finger gebildet.
Diesen künstlichen Embryos könnten beispielsweise embryonale Blutzellen entnommen werden, die dann vervielfältigt und auf ältere Menschen übertragen würden, um deren Immunsystem wieder aufzubauen. Frauen mit altersbedingter Unfruchtbarkeit könnten embryonale Kopien von sich züchten lassen, deren Keimdrüsen dann im Labor oder – nach einer Transplantation – im menschlichen Körper weiter reifen und schliesslich jugendliche Eizellen erzeugen könnten.
Die erklärte Mission von Renewal Bio besteht laut den Präsentationsunterlagen der Firma darin, «die Menschheit zu erneuern – uns alle jung und gesund zu machen». Geschieht dies aber nicht auf Kosten von potenziell lebensfähigen Embryos? Für Hanna ist klar, dass die künstlichen Embryos Wesen ohne Zukunft sind, die wahrscheinlich nicht lebensfähig seien.
Ohnehin gebe es derzeit keine Möglichkeit, diese künstlichen Embryos aus dem Reagenzglas ins wirkliche Leben zu bringen, sagte er der MIT Technology Review. Ihnen fehle die Plazenta und die Nabelschnur, sodass sie nicht überleben könnten, wenn man sie in eine Gebärmutter verpflanzen würde. «Wir versuchen nicht, Menschen zu erschaffen. Das ist nicht unser Ziel», betont Hanna. Ein 40-Tage-Embryo sei kein «Mini-Ich».
Noch ist die Züchtung menschlicher Organ-Implantate praktisch reine Science Fiction. Doch hinter der Tür, die das israelische Forschungsteam jetzt aufgestossen hat, zeichnet sich der Weg dorthin ab. Damit werden unweigerlich rechtliche und ethische Fragen aufgeworfen – etwa, ob synthetische Embryos aus menschlichen Stammzellen Rechte haben oder ob sie als Material für Forschung und Medizin verwendet werden dürfen. Hanna will diesem Problem aus dem Weg gehen, indem er die Ausgangszellen genetisch so modifiziert, dass der daraus entstehende synthetische Embryo gar nicht erst einen Kopf entwickelt.
(Mit Material der Nachrichtenagentur SDA.)
Demonstrieren bereits Abtreibungsgegner vor dem Institut und fordern die Forscher dazu auf das Embryo um jeden Preis weiter zu züchten?