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Alles anders als gedacht? So hoch ist das Risiko für Long Covid wirklich

Alles anders als gedacht? So hoch ist das Risiko für Long Covid wirklich

Es ist die grösste weltweite Analyse zu Long Covid: Die neue Studie hat alle Infektionen einberechnet – nicht nur die Labor-bestätigten. Deswegen fällt der Prozentsatz der Betroffenen jetzt viel tiefer aus.
03.06.2022, 20:2403.06.2022, 21:09
Sabine Kuster / ch media
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Wie oft bleiben Gebresten (Symptome), selbst wenn man von Corona genesen ist? Das ist eine der grossen Fragen, die mehr als zwei Jahre, nach dem Sars-Cov-2 aufgetaucht ist, noch nicht abschliessend beantwortet ist. Nach vielen Studien ging man davon aus, dass es bei rund 20 Prozent nach einer Covid-19-Infektion zu Symptomen kommt, die mindestens drei Monate anhalten. Nun wirft eine neue weltweite Analyse von einem Team von über hundert Forschenden aus elf Ländern die bisherige Annahme über den Haufen.

Long Covid Müder Schüle sitzt am Notebook
Wie viele sind betroffen? Diese Zahl ist auch künftig fürs Gesundheitssystem relevant.Bild: shutterstock.com

Die bisherigen Studien stützten sich meist nur auf laborbestätigte Coronafälle – die unbekannte Fälle konnte man logischerweise nicht verwenden. Doch für die neue Analyse wurden nun die aus Antikörper-Studien bekannten Dunkelziffern und teilweise auch die Übersterblichkeiten der verschiedenen Länder während der Pandemie und miteinbezogen. Damit konnte die tatsächliche Zahl der Infektionen hochgerechnet werden.

Der Topf wurde viel grösser und die Long-Covid-Fälle darin machen einen so kleineren Teil aus: 6 Prozent bekommen Long Covid nach symptomatischen Erkrankungen, auf 4 Prozent kommt man, wenn man auch die asymptomatischen Fälle in den Topf wirft.

Milo Puhan, Direktor des Instituts f�r Epidemiologie, Biostatistik und Praevention, Universit�t Zuerich spricht an einem Point de Presse zur Coronavirus Situation, am Montag, 7. Februar 2022, in Bern. ...
Milo Puhan, Direktor des Instituts für Epidemiologie, Biostatistik und Prävention der Universität Zürich.Bild: keystone

Ebenfalls Daten beigesteuert hat das Team des Zürcher Epidemiologen Milo Puhan. Wir wollten von ihm wissen, welche Zahl nun gilt.

Verschiedene Studien ergaben, dass rund 20 Prozent der an Covid-19 erkrankten Personen später an Long Covid leiden. Nun kommt diese neue Analyse auf nur 6 Prozent. Was stimmt?
Es ist eigentlich gar kein anderes Ergebnis, diese Analyse beruht auf den Daten der Studien wie der unseren, die schon publiziert wurden. Mit der einberechneten Dunkelziffer kommt man einfach auf einen vier mal kleineren Teil, der Long Covid hat. Weltweit gibt es bis jetzt 600 Millionen positive Coronatests – die tatsächliche Anzahl liegt je nach Land zwei bis zwanzig mal so hoch. Die Forschenden kamen auf 4 Milliarden tatsächliche Infektionen, 30 Prozent davon asymptomatische.

Warum wurde nicht schon früher so gerechnet?
Es ist völlig normal von den bestätigten Fällen auszugehen – von den anderen wusste man es ja nicht. Der positive Test ist der sicherste Ausgangspunkt.

Trotzdem verstand man: Wenn ich an Corona erkranke, habe ich ein 20-prozentiges Risiko an Langzeitfolgen zu leiden. Absolut gesehen beträgt es aber nur 6 Prozent.
Ja, es muss klar sein, von welchem Nenner, also von welchem Topf man spricht. Und man muss sich bewusst sein, dass hier komplizierte statistische Modellierungen dahinterstecken. Die Schätzungen sind schwierig zu vergleichen.

Die Zürcher Kohortenstudie hat nicht nur mit positiven PCR-Tests gearbeitet. Sie haben gewisse Gruppen auch auf Antikörper getestet und so alle Infektionen gesehen. Hätten Sie daraus nicht ebenfalls den absoluten Prozentsatz von Long Covid ableiten können?
Nein, weil wir bei einem positiven Antikörpertest nicht wissen, wann sich die Person infiziert hat. Somit hätten wir nicht sagen können, wie lange die Person schon Symptome hat – was aber für die Definition von Long Covid wichtig ist. Omikron hingegen trat in einem so kurzen Zeitraum auf, dass wir besser ableiten können.

Werden Sie daraus berechnen, wie oft es nach einer Omikron-Infektion zu Long Covid kommt?
Ja, wir sind dran. Wir haben die Seroprävalenz im März in den Kantonen Tessin und Zürich gemessen und können zwischen Impfung und kürzlicher Infektion unterscheiden. Und wir befragen die teilnehmenden Personen wiederholt und Monate nach einer Infektion nach Symptomen von Long Covid. Wir sind an der Analyse. Daten aus England zeigen, dass Long Covid nach Omikron seltener ist als nach einer Infektion mit Delta. Unsere und anderen Analysen werden zeigen, wie konsistent dieses Ergebnis ist.

Zurück zur weltweiten Long-Covid-Analyse – noch etwas war neu: Die Forschenden beschränkten sich auf die drei Symptome Atembeschwerden, kognitive Defizite und Fatigue, also chronische Müdigkeit. Da überrascht es nicht, dass ein niedrigerer Prozentsatz herauskam.
Das stimmt. Das wurde so gemacht, weil diese drei Symptome in den meisten Studien untersucht wurden, und auch, weil die Forschenden hauptsächlich sehen wollten, wie hoch die Einschränkungen durch Long Covid sind. Und Atembeschwerden, kognitive Defizite sowie bleierne Müdigkeit können einen grossen Einfluss aufs Wohlbefinden haben. Mit dieser Krankheitslast (Global Burdon of Disease) kann man Long Covid mit anderen Krankheiten vergleichen. Es ging den Forschenden nicht primär darum, den Prozentsatz zu schätzen.

Andererseits haben viele Studien nach nur mindestens einem Langzeitsymptom gefragt – obwohl auch ohne Virusinfektion manchmal ein neues Leiden auftaucht.
Klar. Solche Studien führten dann zu sehr hohen Schätzungen von 50 oder 70 Prozent Long Covid. Man muss differenziert fragen und möglichst mit Kontrollgruppen arbeiten.

Die Studie zeigt einen starken Rückgang der Symptome während eines Jahres: Von sieben Betroffenen sind am Ende sechs genesen. Ist Long Covid weniger chronisch als befürchtet?
Postvirale Syndrome sind nichts Neues, es war klar, dass der Grossteil der Symptome besser wird und viele Betroffene auch wieder ganz gesund werden. Die Frage ist aber: Wie gross ist der Anteil jener, die nach zwei Jahren noch stark beeinträchtigt sind?

Das wären jene, die teilweise bettlägerig sind und nicht mehr voll arbeiten können. Die Berliner Charité geht von einem Prozent solcher ME/CFS-Fälle nach Covid-19 aus. Was denken Sie?
Das ist auch unsere Schätzung: Ein Prozent der Infizierten ist auch nach mehr als einem Jahr noch stark beeinträchtigt. Aber für genauere Resultate muss man zuwarten.

Sie haben es angetönt, es gibt auch bei anderen viralen Erkrankungen Langzeitfolgen. Sind sie nach Sars-CoV-2 gravierender?
Wir wissen es schlicht nicht, weil es nicht untersucht wird bei anderen Infektionen. Nicht mal die Grippe wurde je so systematisch verfolgt. Klar ist nur: Viren können bei der Entstehung von Krankheiten wie Krebs oder Multipler Sklerose eine wichtige Rolle spielen.

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60 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Mutzli
03.06.2022 21:41registriert Dezember 2016
Schlagzeile "Alles anders als gedacht? So hoch ist das Risiko für Long Covid wirklich"

vs.

Einordnung im Artikel selbst: "Die Forschenden beschränkten sich auf die drei Symptome Atembeschwerden, kognitive Defizite und Fatigue, also chronische Müdigkeit. Da überrascht es nicht, dass ein niedrigerer Prozentsatz herauskam."

Sorry, aber da viele einfach nur die Schlagzeile oder vielleicht noch den ersten Absatz lesen, wird so effektiv die Aussage der Studie und des Interviews krass verzerrt.
Wäre schön, wenn man das berücksichtigen würde vor hochschalten des Artikels.
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Dopamin
03.06.2022 23:10registriert April 2016
So weit nichts Neues.

Man wusste schon vorher, dass sich die 20% ausschliesslich auf laborbestätigte Fälle beschränkte, da konnte man selber 1 und 1 zusammenzählen, dass die Wirklichkeit ganz anders aussieht.
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Oberland-Autobahn
03.06.2022 20:33registriert Juli 2021
Ich musste erstmal Googlen, was Gebresten sind: " schweizerisch, sonst veraltet: andauernde (körperliche, gesundheitliche) Beeinträchtigung" Nie gehört oder gelesen zuvor.
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    Soziale Durchmischung wirkt wie ein Schutzschild während Pandemien
    In Städten, in denen die Bevölkerung sozial kaum durchmischt ist, breiten sich Infektionskrankheiten besonders schnell aus. Das zeigt eine neue Studie von Wiener Komplexitätsforschern.

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