Als die damals 78-jährige Frau sagte, in ihrem Kopf stimme was nicht, zeigten sich ihre Freundinnen nicht beunruhigt. Vielleicht die Folge eines kürzlichen Spitalaufenthaltes. Im folgenden Jahr aber ging es ihr immer schlechter, sodass sie ins Altersheim einzog. Dort konnte sie nur wenige Monate in ihrer Wohnung bleiben, weil sie inkontinent wurde. Sie musste in die Pflegeabteilung verlegt werden. Die Frau lag bald hauptsächlich in ihrem Bett in einem abgedunkelten Zimmer, weil sie helles Licht störte und ihr oft übel wurde, wenn sie sich aufrichtete.
Bald konnte sie nicht mehr sprechen. Ihr letztes «Ja», sprach sie vermutlich, als ihr eine Himbeere gereicht wurde und sie gefragt wurde, ob es ihr schmecke. Eine Zeit lang erwiderte sie noch den Druck, wenn man ihre Hand nahm. Danach war nicht mehr feststellbar, ob sie ihre Umgebung noch wahrnahm.
Über zwei Jahre lag sie auf dieser Pflegeabteilung, bis sie starb. Ihre Freundinnen besuchten sie bis zuletzt, aber die Besuche wurden kurz und fielen ihnen immer schwerer. «Es ist schlimm, so zu enden», sagten sie oft. Und: «Das will ich nie.»
Das Problem in einer solchen Situation, die so in einem Aargauer Pflegeheim stattgefunden hat, ist: Wer an einer neurodegenerativen Krankheit leidet, verliert meist seine Mündigkeit, bevor er (falls überhaupt) den Lebenswillen verliert. Also bevor das Leben unerträglich werden könnte. Und sofern man nicht erkrankt, lebt man weiter.
Deshalb hat der Gründer der Sterbeorganisation Exit International, Philip Nitschke, Erfinder der Suizidkapsel Sarco, nun auch eine Idee für dieses Problem am Ende des Lebens: Man könnte sich eine Art Schalter implantieren lassen, den man regelmässig deaktivieren müsste, wenn ein Ton ertönt. Würde man vergessen, was der Ton soll, würde sich das Implantat nach einer gewissen Frist aktivieren und einen töten.
Sarco hat dazu ein Video veröffentlicht, in dem eine fiktive Person sagt, sie fürchte sich davor, wegen Alzheimer zu einer anderen Person zu werden, die absolut nichts mehr mit ihrem früheren Ich zu tun habe. Diese Person würde noch ihren Namen und ihre Identität tragen, aber das wäre nicht mehr sie: «Ich will nicht so verändert werden, ich will mit Würde als ich selber sterben.» Der holländische Arzt Karel Seghers sagt im Video, die Angehörigen und Ärzte hätten daher unmögliche moralische Entscheidungen zu fällen. Ein implantierter Schalter würde sie davon entlasten und wie ein umgekehrter Herzschrittmacher funktionieren.
Ein solches Implantat gibt es noch nicht und deshalb ist auch nicht klar, wie das sicher funktionieren könnte.
Die Idee zu einer solchen Advance Euthanasia Directive (AED) hatte ursprünglich die Holländerin Marije de Haas, die sie 2019 in einer Studie vorgestellt hat. In Holland wird das Thema schon länger diskutiert, weil man dort in seiner Patientenverfügung festhalten kann, dass ein Arzt mit einer Spritze das Leben beenden soll, wenn die Demenz stark fortgeschritten ist. Laut einer Studie von 2005 sterben in den Niederlanden jährlich 2200 demente Personen, die einen solchen Wunsch festgehalten haben. In 76 Prozent der Fälle wurde die Euthanasie diskutiert, aber schliesslich selten vollzogen. Denn in drei Vierteln der Fälle wollten die Angehörigen nicht, dass der Arzt die Patientenverfügung befolgt. Es wurde aber zu 90 Prozent der Wunsch des Patienten respektiert, auf lebensverlängernde Behandlungen zu verzichten.
In den meisten anderen Ländern dürfen Personen, die nicht mehr urteilsfähig sind, jedoch keine Sterbehilfe in Anspruch nehmen. Die Idee des «Todesschalters» zeigt, dass es Handlungsbedarf gibt. Aber nicht unbedingt mit einer technischen Lösung. Das findet der Medizinethiker und Palliativmediziner Jürg C. Streuli von der Stiftung Dialog Ethik. «Der Todesschalter ist ein Überholmanöver auf der rechten Spur», sagt er. Heute werde im letzten Lebensabschnitt von schwer dementen Personen oft nicht richtig hingeschaut, und wenn man sich präventiv das Leben nehme, geschehe das erst recht nicht. «Es ist verrückt, dass so ein Schalter bestimmen soll, wann das Leben nicht mehr würdevoll ist.»
Schliesslich könnten wir nicht mit Werten, die für einen selbst aktuell gültig seien, vorausdenken. «Es kann ja sein, dass man als demente Person eine neue Form von Zufriedenheit erlebt. Und dass freudvolle Begegnungen möglich sind, selbst wenn wir unsere Angehörigen nicht mehr erkennen.» In diesem Fall sei das Implantat unnötig und hochproblematisch.
Auch eine zweite Möglichkeit macht es oft unnötig: Nämlich, wenn eine Patientenverfügung so genau gehalten ist, dass der Zustand der letzten Lebensphase nicht lang andauert. Wenn man also festhält, dass man bei starker Demenz keine lebensverlängernden Massnahmen mehr möchte. Dazu gehört nicht nur, dass man nicht von Maschinen am Leben gehalten werden will, sondern auch, dass man nicht künstlich ernährt werden will und bei einer Infektion keine Antibiotika bekommt.
«Eine detaillierte Patientenverfügung hält auch fest, ob man noch gefüttert werden soll, wenn man keinen Hunger mehr zeigt und den Kopf wegdreht», sagt Streuli. «Aber leider ist die Qualität der Patientenverfügungen sehr unterschiedlich.» Am besten fülle man nicht nur einen Fragebogen aus, sondern kläre alles in einem persönlichen Beratungsgespräch. Es geht auch darum, Personen zu bestimmen, die überprüfen, ob der festgehaltene Wille im Pflegeheim auch umgesetzt wird oder ob einfach alles Mögliche gemacht werde, aus Angst, etwas falsch zu machen. Es brauche eine Person, die einen noch gut einschätzen könne, wenn die Kommunikation eingeschränkt ist.
Streuli, selber erst 45 Jahre alt, hat das bereits mit seiner Familie geregelt. Sollte auch seine Frau nicht mehr da sein, weiss ein Freund, dass es ein Dokument gibt. In einem ersten Schritt sei eine solche gründliche Vorbereitung auf das Lebensende viel wichtiger, findet er.
Die Frau, die über zwei Jahre in ihrem Bett im abgedunkelten Zimmer lag, hatte keine Familie mehr. Sie hatte zwar immer einen unglücklichen Gesichtsausdruck. Aber sie liess sich bis zum Schluss füttern und hatte, als sie das noch sagen konnte, die Pflege sehr geschätzt. Ihre Freundinnen wussten daher nicht, ob sie lebensmüde war oder nicht. Was ist also in einer solchen Situation zu tun?
«Wenn tatsächlich ein Todesschalter ein Bedürfnis einiger Leute ist, dann sollten wir offen darüber nachdenken, ob es auch die adäquate Lösung ist und was die Sicherheitsbedenken sind», sagt Streuli. Die Diskussion beinhalte aber auch, was ein würdevolles Leben sei. Schliesslich sei das Leben auch ohne Demenz nicht immer schön, aber es sei schwer zu sagen, wann die Grenze überschritten sei, dass es nicht mehr lebenswert ist. «Es gibt würdelose Situationen beim Leben mit Demenz, aber diese entstehen oftmals auch wegen Zeit- und Personalmangel», gibt Streuli zu bedenken. Auch da müsse man ansetzen.
Wenn man als Angehörige oder Pflegeperson ins Zimmer einer solchen Person trete und sich frage «Was machen wir da eigentlich?», sei der Moment gekommen, sich Rat zu holen. Die Stiftung Dialog Ethik, bei der Streuli das Institut leitet, macht inzwischen Beratungen vor Ort, also in Heimen und Spitälern. «Wir bieten ein moderiertes Gespräch an, wenn eine Situation als entwürdigend oder nicht mehr lebenswert wahrgenommen wird und darüber, was die Person jetzt an Schutz verdient.» Aber das Angebot werde noch zu wenig genutzt.
Selber ist Streuli in einem noch heikleren Bereich tätig: in der Beratung von Eltern schwerst kranker Kinder. Er sagt einerseits: «Da ist jeweils so viel Leben da, wenn man genau hinschaut.» Und doch befürwortet er manchmal die indirekte Sterbehilfe. Dass also ein Kind die Medikamente erhält, die es braucht, damit es keine Schmerzen mehr hat, aber deswegen auch stirbt.
Jürg Streuli findet, dass Ethik dort stattfinden soll, wo Leiden entsteht, und sich auf die betroffenen Menschen beziehen. «Und da erleben wir von Dialog Ethik, dass sich viele Situationen klären lassen, wenn man genau hinschaut, die Symptome gut kontrolliert und die Familie und das Team unterstützt. Und zwar ohne dass man einen Schalter zur Verfügung stellt, um Menschen, deren Situation man nicht vorhersehen kann, umzubringen.»
(aargauerzeitung.ch)
Das Implantat hingegen sehe ich als problematisch an, rein aus technischer Sicht. Denn jede Fehlfunktion (Ton/Signal funktioniert nicht, Deaktivier-Knopf funktioniert nicht, etc...) hat den ungewollten Tod zur Folge.
Zudem dürften MRI-Untersuchungen damit unmöglich werden. Und es gibt Situationen, wie z.B. nach einem Unfall, wo jemand über mehrere Tage nicht bei Bewusstsein ist, aber sich danach wieder erholt. Dann müsste jeder Arzt weltweit wissen 1) dass man dieses Implantat hat und 2) wie es vorübergehend deaktiviert werden kann.
Aber eine detaillierte Patientenverfügung ist wichtig. Die Grenzen zieht ja jeder anders.
Die Pflegenden haben sich grossartig um sie gekümmert. Aber mit Würde hatte das schon lange nichts mehr zu tun. Das war einfach nur noch Angst, Schmerz und Leid.
Sie hatte auch keine Mittel mehr. Es gab nichts worauf die Erben hätten gierig sein können.
Für mich war klar, dass sie erlöst werden müsste. Es brach mir das Herz, dass man nichts tun konnte.