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Interview

Psychologe erklärt, warum wir so schnell urteilen

«Für eine Meinung braucht es nur wenige Eindrücke»: Warum wir so schnell urteilen

Menschen sind unglaublich schnell darin, sich eine Meinung über andere zu bilden. Weshalb schnelle Urteile auch nützlich sein können – und was das mit Haftbefehl und Elefanten zu tun hat.
01.12.2025, 09:5601.12.2025, 10:05

Eine Gruppe blinder Männer trifft zum ersten Mal auf einen Elefanten. Jeder von ihnen berührt einen anderen Teil des Tieres, um herauszufinden, was es ist. Einer berührt das Bein: «Das ist ein Baum.» Ein anderer berührt den Rüssel: «Nein, es ist eine Schlange.» Ein Dritter legt die Hand auf das Ohr: «Das ist doch ein Fächer.» Ein weiterer greift den Schwanz: «Ihr irrt euch, es ist ein Seil.» Einer fasst die Seite des Tiers an: «Quatsch, das ist bloss eine Wand.»

Ein Streit entfacht. Jeder ist überzeugt, recht zu haben. Da tritt ein weiser Mann hinzu und sagt: «Ihr habt alle ein bisschen recht. Aber jeder sieht nur einen Teil, keiner das Ganze.»

Die hinduistische Parabel ist mindestens so alt wie der berühmte Satz «Ich weiss, dass ich nichts weiss», der auf Sokrates zurückgeht. Wir erzählen sie uns, um uns bewusst zu machen, dass wir die Welt immer nur aus einem begrenzten Blickwinkel wahrnehmen.

Trotzdem neigen wir noch immer zu vorschnellen Urteilen.

Ein aktuelles Beispiel: Seit der Netflix-Doku über den deutschen Rapper Haftbefehl wird viel über die Beziehung zwischen Aykut Anhan und seiner Frau Nina Anhan diskutiert. Viele werten ihr Verhalten als loyal, weil sie trotz seiner Drogensucht bei ihm geblieben ist. Andere empfinden es als Schwäche und meinen, sie hätte ihn verlassen sollen.

abb/Haftbefehl- Nina Anhan mit Aykut Anhan mit Sturmhaube zu Gast auf dem roten Teppich des Special Screening Event dem Netflix Doku Highlight Babo Die Haftbefehl Story in der Astor Film Lounge am 24. ...
Nina Anhan und Aykut Anhan mit Sturmhaube an der Premiere der Netflix Doku «Babo – Die Haftbefehl Story».bild: imago

Nina Anhan selbst sagt: «Urteile nicht, wenn du die Wahrheit nicht kennst.» Doch das hält die Menschen nicht davon ab. Ein Gespräch mit dem Sozialpsychologen Johannes Ullrich darüber, warum wir so schnell Schlüsse ziehen – und welche Mechanismen dahinterstecken.

Johannes Ullrich, Professor für Sozialpsychologie am Psychologischen Institut der Universität Zürich.
Johannes Ullrich, Professor für Sozialpsychologie am Psychologischen Institut der Universität Zürich.bild: zvg

Warum urteilen Menschen so schnell über die Entscheidungen anderer?
Oft bilden wir uns bereits nach wenigen Eindrücken eine Meinung – manchmal reicht schon eine Schlagzeile, selbst wenn uns das Thema gar nicht direkt betrifft. Im Fall von Haftbefehl hatten Zuschauer immerhin 90 Minuten, um sich ein Urteil zu bilden. Auf der anderen Seite ist es prinzipiell sehr nützlich, dass wir diese Fähigkeit haben. Stellen Sie sich vor, jemand in Ihrem Zugabteil zückt ein Messer. Da müssen Sie schnell entscheiden, ob er es zum Apfelschälen oder für etwas anderes braucht.

Aber bei Äusserungen auf Social Media geht es ja nicht um Leben und Tod.
Sie haben recht: Wir müssten uns in den sozialen Medien nicht äussern, aber ein Urteil bilden wir uns trotzdem, oftmals unwillkürlich. Die entscheidende Frage ist aber eher: Warum machen manche ihr Urteil öffentlich? Das kann je nach Thema und Persönlichkeit unterschiedliche Gründe haben. Manche wollen Einfluss ausüben, sich inszenieren, andere suchen Bestätigung oder wollen provozieren. Der Austausch mit anderen ist aber auch wichtig für Menschen, bietet Orientierung im Alltag und findet heute eben vielfach virtuell statt.

Gibt es Unterschiede, wie wir offline und online urteilen?
Ja, es gibt viele Unterschiede zwischen Online- und Offline-Kommunikation, zum Beispiel was das Potenzial für Missverständnisse angeht, das natürlich grösser ist, wenn Gesten, Mimik oder Betonung fehlen. Ein wichtiger Aspekt ist jedoch: Durch die Vernetzung von riesigen Zahlen von Userinnen und User wird besonders die Reichweite von extremen Meinungen mit Empörungspotential grösser. Im Ergebnis sieht es dann so aus, als würden die Leute online Sachen sagen, die sie offline nicht sagen würden. Das muss aber nicht so sein, es werden einfach die extremen Beiträge algorithmisch begünstigt.

Welche Rolle spielen Emotionen, wenn wir über das Verhalten anderer urteilen?
Emotionen entstehen nicht nur in Situationen, die uns direkt betreffen. Wir identifizieren uns mit Menschen oder Gruppen – und ihre Schicksale können Gefühle bei uns auslösen. Wer sich mit Haftbefehl identifizieren kann, wird das Verhalten seiner Frau vermutlich eher als Loyalität auslegen, andere werden es vielleicht als Schwäche interpretieren. Wir tendieren zu einem Gleichgewicht in unseren Bewertungen. Wenn wir sehen, dass jemand, mit dem wir Mitgefühl haben, von anderen nicht im Stich gelassen wird, erfüllt uns das mit Freude.

Werden Frauen stärker verurteilt als Männer?
Zum Glück gibt es heute gesellschaftliche Schranken gegen Sexismus, Rassismus oder andere Diskriminierungen. Dennoch urteilen Menschen manchmal härter, besonders wenn jemand sich öffentlich zeigt. Das Urteil kann manchmal extremer ausfallen, wenn die Person einer stigmatisierten Gruppe angehört.

Was sind die Vorteile und Nachteile, wenn Menschen andere sehr schnell bewerten?
Eine schnelle Einschätzung kann zeigen, dass jemand gut informiert ist und eine klare Meinung hat. Es kann aber zum Beispiel auch bedeuten, dass jemand sehr impulsiv ist und sich nicht so gut im Griff hat.

Ist es möglich, komplett urteilsfrei zu sein? Sollte man das überhaupt anstreben?
Unser Bewusstseinsstrom produziert ständig automatische Einschätzungen und Bewertungen – selbst wenn wir bewusst versuchen, neutral zu bleiben. Wir können aber auch innehalten, uns zurückhalten oder unsere erste Reaktion korrigieren, bevor wir ein Urteil äussern. Ganz sicher gibt es immer wieder Bewertungen, unter denen die Leute leiden, oder Äusserungen, die Menschen bereuen. Es scheint also eine Lebensaufgabe zu sein, das persönlich richtige Mass an Kontrolle zu erlangen.

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