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Ozeantemperaturen auf Rekordhoch: Reto Knutti über das Klima-Rätsel

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«Wenn das ein Experiment wäre, hätte ich zuerst an einen Messfehler geglaubt»

2023 war ein Rekordjahr fürs Klima – bei den Temperaturen an Land, vor allem aber bei den Weltmeeren, die sich auch in diesem Jahr nicht abkühlen. Die Rekorde sind so hoch, dass es die Wissenschaft noch immer vor ein Rätsel stellt. Wir fragen den Klimaforscher Reto Knutti, inwieweit dieses schon gelöst ist.
18.04.2024, 12:59
Lara Knuchel
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Wir starten das Gespräch mit dem ETH-Professor gleich anhand dieser Grafik:

Tägliche Meeresoberflächentemperatur

In Grad Celsius, geschätzt von NOAA OISST v2.1 60°S bis 60°N; 0 bis 360°E

2022

2023

2024

Ø 1982-2011

Plus 2σ

Minus 2σ

Herr Knutti, was sehen wir auf dieser Grafik?
Reto Knutti: Das sind die gemittelten Meeresoberflächentemperaturen der Ozeane, davon ausgenommen sind die Meere an den Polen. Im Wesentlichen ist es dasselbe wie die Lufttemperatur über dem Wasser. Man misst sie mit automatisierten Bojen, die zu Tausenden im Ozean herumtreiben.

Alles klar. Und was zeigt uns die Grafik inhaltlich?
Die Temperaturen bewegen sich ab März 2023 ausserhalb der natürlichen Bandbreite der Vergangenheit. Ab Mitte 2023 sind sie dann sogar weit, weit ausserhalb. In den letzten zwölf Monaten stellte jeder Monat einen Rekord auf. Das gilt übrigens auch für die Landtemperaturen ab Juni.

Nun gab es ja bei Land und Wasser nicht einfach nur Rekordtemperaturen – es waren auch noch sehr deutliche Rekorde.
Die Monate waren mit so grossen Abständen die wärmsten, dass ich es jeweils so ausdrücke: Wenn das die Messung eines Experiments wäre, würde ich sagen, da ist etwas schiefgelaufen – das ist ein Messfehler, da hat das Thermometer wohl nicht funktioniert (lacht). Auf den ersten Blick sieht das einfach so absurd hoch aus.

2023 war anders: Die Abweichung der globalen Mitteltemperatur (inkl. Unsicherheit)

Abweichung der globalen Mitteltemperatur und Unsicherheit
In Grad Celsius und im Vergleich mit den Jahren 1850 bis 1900. Bild: berkeleyearth.org

Was ist denn ab März 2023 passiert?
Das ist jetzt eben die grosse Frage! Ich fasse es mal so zusammen: Wir kennen eine Serie von möglichen Faktoren, die einen Teil davon erklären können. Im Moment haben wir aber noch kein vollständiges Bild davon, welcher dieser Faktoren wie viel zum Anstieg beiträgt. Und ob die einzelnen Komponenten zusammengenommen überhaupt genügen, um ihn zu erklären – oder ob uns noch etwas fehlt.

Das heisst?
Ich kann Ihnen jeweils Schätzungen zu den einzelnen Faktoren geben. Aber im Moment ist es, ganz ehrlich, noch ein Rätselraten – weil sich die Zahlen so weit ausserhalb dessen befinden, was wir kennen.

Mit anderen Worten: Klimaforschende wie Sie wurden komplett überrascht.
Es gibt weltweit zahlreiche Personen, die jeweils zu Beginn eines Jahres Voraussagen treffen für das folgende Jahr. Diese Prognosen waren in den letzten 30, 40 Jahren zutreffend, die Messwerte befanden sich stets innerhalb des statistischen Fehlerbereichs. Neben dem Spezialfall, als 1991 der Vulkan Pinatubo ausgebrochen war, war das Jahr 2023 das erste, das sich ausserhalb des vorausgesagten Bereichs befand.

«Im Moment ist es, ganz ehrlich, noch ein Rätselraten.»

Aber hätte man das nicht voraussehen können? So war bekannt, dass La Niña, also die Phase, in der sich der östliche Pazifik eher abkühlt, ausserordentlich lange angedauert hatte. Man wusste auch, dass 2023 wieder ein El-Niño-Jahr wird, in dem unter dem Strich höhere Ozeantemperaturen erwartet werden, und dass die nächste El-Niño-Phase aufgrund von möglichen Nachholeffekten umso stärker wird.
Das stimmt alles, aber das war auch so in den Modellen einberechnet. Zudem: Die Effekte von El Niño treten meistens mit einer Verzögerung von mehreren Monaten ein. Man sprach eigentlich erst ab den Sommermonaten 2023 vom Eintreten dieser Phase. Das erklärt somit nicht die hohen Temperaturen bereits im März.

Sie haben die verschiedenen Faktoren angesprochen. Welche sind es denn?
Wir haben zunächst die externen Faktoren, die quasi von aussen auf das System einwirken. Da wäre das CO₂-Level, das zweifelsohne gestiegen ist – aber im Vergleich zum Vorjahr niemals so stark, als dass es irgendetwas erklären würde. Zweitens kam es im Dezember 2021 zum Ausbruch von Hunga Tonga, einem submarinen Vulkan im Inselstaat Tonga im Pazifik.

Aber Vulkanausbrüche haben doch meistens eher eine kühlende Wirkung, da die Partikel in der Luft mehr Sonnenstrahlen reflektieren.
Das stimmt, dieser Fall war aber anders: Weil es ein Unterwasser-Vulkan war, der ausgebrochen ist, wurde in erster Linie viel Wasserdampf in die Atmosphäre gepustet. Wasserdampf ist ein Treibhausgas und wärmt. Auch dieser Einfluss ist aber, wenn überhaupt, gering.

Was sind weitere externe Faktoren?
Die solare Aktivität hat wieder leicht zugenommen. Die Sonnenaktivität weist einen kurzen, elfjährigen Zyklus auf, innerhalb davon wird sie stärker und auch wieder schwächer. Im Moment ist die Kurve wieder steigend. Aber auch das hat nur einen kleinen Effekt.
Schliesslich gibt es noch die Luftreinhaltung. Das ist wahrscheinlich der stärkste externe Faktor.

Weil die Luft reiner wurde, hat sich die Erde stärker erwärmt?
2021 gab es eine neue Regelung, eine massive Verschärfung, für die Emissionen von Schiffen. Seither ist die Luft, insbesondere über den Ozeanen, sauberer geworden. Das hat zwei Effekte: Einerseits gibt es weniger Streuung der Sonnenstrahlen, es gelangt also mehr davon direkt auf die Erdoberfläche. Andererseits bilden sich so auch weniger Wolken, da der Wasserdampf an den Partikeln schneller kondensiert. Der Effekt dieser Verschärfung war relativ abrupt.

Die bessere Luftqualität über den Ozeanen führt also zu höheren Temperaturen. Dann hat man ja bereits eine Erklärung?
Nur bedingt. Denn auch hier spricht etwas dagegen: Auch über den Bereichen der Ozeane, wo keine Schiffe fahren, sowie über Land verzeichnet man Rekordtemperaturen. Der Effekt ist also sicher da, aber seine Stärke ist unklar. Es gibt aber eine wichtige Erkenntnis.

Die wäre?
Die Veränderung der Strahlungsbilanz in den letzten zwei Jahren fand primär im kurzwelligen Bereich statt, nicht im langwelligen.

Das müssen Sie erklären.
Die kurzwellige Strahlung kommt von der Sonne. Langwellige Strahlung, die auf der Erde gemessen wird, entsteht durch den Treibhauseffekt: Energie, die von der Erde abstrahlt und durch Treibhausgase wieder zurück auf die Erdoberfläche trifft. Und man weiss, dass die grösste Veränderung im Bereich der direkten Sonneneinstrahlung stattgefunden hat.

Zur Person
Prof. Dr. Reto Knutti unterrichtet an der ETH Zürich Klimaphysik. Der Berner forscht am Departement für Umweltsystemwissenschaften unter anderem zu Veränderungen im Klimasystem durch Treibhausgase wie CO₂ sowie zu Klimamodellen. Reto Knutti war zudem Leitautor mehrerer Klimaberichte der UNO.
Reto Knutti
Bild: zvg/Manuel Rickenbacher

Was heisst das?
Es gab vielmehr eine Zunahme an Sonnenlicht als eine Zunahme durch den Treibhauseffekt. Das kann aufgrund einer Veränderung der Wolkenbedeckung sein, es kann aber auch durch eine Veränderung der Reflexion zustande gekommen sein: weniger Eis, welches das Licht reflektiert und zu einer Erwärmung des Ozeans führt.

Nun haben Sie die externen Faktoren aufgezählt. Was ist mit den internen Faktoren?
Da würde ich drei nennen. El Niño haben wir bereits angesprochen. Diese Phase geht üblicherweise mit einer Erwärmung der globalen Temperaturen einher. Hinzu kommt die schlechtere Durchmischung der Ozeane, die entsteht, wenn das Oberflächenwasser besonders warm ist: Weil warmes Wasser nicht absinkt, durchmischen sich die Meere umso schlechter, je wärmer sie oben sind. Entsprechend bleibt die gemessene Oberflächentemperatur höher.

Und der dritte Faktor?
Natürliche, zufällige Variationen und Schwankungen, die es immer gibt. Das kann die ausserordentlich tiefe Meereisbedeckung im südlichen Ozean im letzten Jahr sein, aber auch andere Wetterphänomene, die zusätzlich zu El Niño und zufällig aufgetreten sind. Diese kann man weder einem bestimmten Phänomen zuteilen noch vorhersagen.

Fassen wir zusammen: Welche Faktoren sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten?
El Niño als interner Prozess und die Luftreinhaltung als externer Faktor. Trotzdem: Es ist noch sehr vieles unklar.

Gibt es denn Bereiche in den Weltmeeren, die sich mehr als andere erwärmt haben?
Das ist schwer zu sagen. Wir sehen auf den Karten, dass sich praktisch alle Bereiche zu einem gewissen Zeitpunkt extrem erwärmt haben. Angefangen hat es mit dem nördlichen Atlantik, der überdurchschnittlich warm war, danach war es der östliche Pazifik – dort sieht man El Niño besonders gut –, später folgten weitere Bereiche. Dieses geografische Ausmass ist schon erstaunlich.

«Wir sind es gewohnt, dass es Extremereignisse gibt. Aber das war schon ein bisschen ... vielleicht wie die Corona-Pandemie, oder der Ukraine-Krieg.»

Nun heisst es schon seit längerer Zeit aus der Klimaforschung: Wir haben noch keine Erklärung. Ist man da seit 2023 etwas weitergekommen?
Ein wenig. Aber wir wissen noch immer nicht viel. Seriöse Forschung benötigt eher Jahre als Monate, um so etwas erklären zu können. Das hängt auch damit zusammen, dass wir viele Daten erst mit einer gewissen Verzögerung erhalten.

Welche Diskussionen hat diese Entwicklung unter Klimaforschenden ausgelöst, als sich das Ausmass der Temperaturen im letzten Jahr abzeichnete?
Wir sind es mittlerweile gewohnt, dass es Extremereignisse gibt. Aber das war schon ein bisschen ... vielleicht wie die Corona-Pandemie, oder der Ukraine-Krieg. Man schaut sich das an und denkt: Das kann irgendwie nicht sein. Das hat schon viele Diskussionen ausgelöst. Andererseits sind wir in der Wissenschaft auch vorsichtig, nicht zu schnell zu falschen Interpretationen zu kommen. Man kontrolliert die Daten dreimal und nimmt sich die Zeit, um sie zu verstehen.

Die Folgen der Erwärmung der Meere
Die warmen Ozeantemperaturen haben direkte Folgen für die Weltmeere. Einerseits kommt es zu Korallenbleichen, bei der die Tiere absterben. Dieser Vorgang geschieht derzeit schneller und grossflächiger, als man bis anhin angenommen hat. Weiter kann es zu stärkeren Wirbelstürmen kommen: Bereits jetzt gehen diverse Forschungsinstitute für die kommende «Hurricane-Season» von der aktivsten Saison aus, die es je gab.
Gemäss Klimaforscher Knutti kann es aber aufgrund der relativen Unerforschtheit der Ozeane auch zu vielen weiteren Folgen für die Ökosysteme im Meer kommen, die wir noch nicht kennen.

Was wäre eigentlich der Worst Case, also die für uns «schlimmste» Erklärung, die es für die Beobachtung geben könnte?
Dass man zum Schluss kommt, dass das Klimasystem schneller und stärker auf CO₂ reagiert, als man gedacht hat. Das würde bedeuten, dass sich die Welt wirklich rascher erwärmt, als wir meinten. Das können wir nicht ausschliessen. Aber schreiben Sie jetzt nicht, das ist so!

Wieso? Was würde das bedeuten?
Es ist eine der Hypothesen, aber wir wissen es einfach noch nicht. Sollte es aber so sein, würde es bedeuten, dass wir gewisse Rückkoppelungen unterschätzt haben. Und dass wir mit dem Klimaschutz «noch mehr zu spät» sind. Aber: Eine solche Interpretation, die auf nur einem Datenpunkt, also nur einem Jahr, basiert, ist auch gefährlich.

Trotzdem: Vor allem von rechts-bürgerlicher Seite scheinen die warnenden Stimmen gerade sehr laut zu sein. Sie warnen aber vor einer Überschätzung – man solle sich davor hüten, jetzt «Panik» zu verbreiten. Dabei ist es doch das Gegenteil: Müssen wir uns nicht davor hüten, den Klimawandel zu unterschätzen? Wenn das ja offenbar sogar in der Forschung der Fall war, zumindest für das letzte Jahr.
Die skeptischen Stimmen sind momentan wieder relativ laut. Dazu fällt mir zum Beispiel ein kürzlich erschienener Film über den Klimawandel ein, der «Aufklärung» betreiben will. Der grösste Teil der physikalischen Grundlagen ist aber absoluter Schwachsinn. Trotzdem nimmt zumindest die «Weltwoche» den Film bereits sehr ernst. Aber Sie haben recht: Wenn man die Messdaten anschaut, deuten sie eher darauf hin, dass die Klimaerwärmung ein grösseres Problem ist, als man gedacht hat, und nicht ein kleineres. Plus: Wir haben jetzt nur über die Temperaturen gesprochen.

Was meinen Sie?
Wir könnten auch über Extremereignisse sprechen, über Hitzewellen, Waldbrände, über unsere Winter. Wir hatten zum zweiten Mal in Serie einen Winter, der kaum Schnee sah: Der Februar wies die tiefste je gemessene Schneedecke im Alpenraum auf. 2022 und 2023 gab es einen Rekord bei der Gletscherschmelze: Innerhalb von zwei Jahren verloren die Schweizer Gletscher zehn Prozent ihres Volumens. In zwei Jahren!

«Journalistinnen und Journalisten sollten mehr über die Chancen in der Zukunft statt nur über die Risiken berichten.»

Sie haben die «Weltwoche» erwähnt. Abschliessende Frage, diesmal zu meinem Berufsstand statt zu Ihrem: Was können die Medien tun, um dem Auftrag, zwischen der Wissenschaft und der Öffentlichkeit zu «übersetzen», gerecht zu werden?
Ich verstehe, dass das schwierig sein kann. Ihre Branche hat es derzeit nicht einfach, es wird gespart und alles dreht sich nur um Klicks. Die meisten lesen nur kurz einen «Aufreger», aber keine längeren Hintergrundartikel mehr. Trotzdem habe ich eine Empfehlung.

Welche denn?
Journalistinnen und Journalisten sollten mehr über die Chancen in der Zukunft statt nur über die Risiken berichten. Es gibt Leute, die wollen nichts verändern, weil sie an einer Vergangenheit festhalten – die es sowieso in dieser Form nicht mehr gibt. Dann gibt es aber auch Leute, die vor Angst fast gelähmt sind und sich denken: Wir können ja eh nichts mehr machen. Beiden müssen wir klarmachen: Es gibt eine Zukunft, die lebenswert ist und die wir gemeinsam und aktiv gestalten können. Diese Lust am Mitgestalten sollte mehr geweckt werden.

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416 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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MartinZH
17.04.2024 12:15registriert Mai 2019
Und der Präsident der grössten CH-Partei leugnet [!] diese wissenschaftlichen Erkenntnisse, die für ALLE sichtbar sind, vehement.

Wenn mangelnde Bildung auf Ignoranz und eine fehlgeleitete Ideologie trifft, hat dies fatale Folgen. U.a., dass auf politischer Ebene alle Massnahmen eingebremst und lächerlich gemacht werden.

Als "Argument" kommt dann nur zurück, dass es schon vor 300 Mio. Jahren eine Erderwärmung und Gletscherschmelze gegeben hat, die nicht von Menschen verursacht wurden.

Auf diesem Niveau "argumentiert" der Präsident der grössten CH-Partei. Das gibt einem schon zu denken... 😔
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Allgood
17.04.2024 12:17registriert Juli 2016
Guter sachlicher Artikel über die möglichen Hintergründe. Danke und mehr davon bitte! Wir brauchen mehr Knuttis in dieser Welt!❤️‍🔥
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Danieli
17.04.2024 12:06registriert Dezember 2021
Die SVP-Neutralität wird sich wie ein Schutzschild über die Schweiz erheben. Nichts gelangt durch: Nicht das Wetter, keine Kriege, nicht mal die EU.

Alles paletti.
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